Welche Freiheit für Europa?

Jacques Chirac

Dieser Tage ist der deutsche Bundeskanzler Schröder dem französischen Präsident Chirac zu Hilfe geeilt. Mit gutem Grund.

Freund Chirac kämpft gegen ein drohendes Nein der Franzosen zur EU-Verfassung an. In einer „Fernsehdebatte“ borgte er sich einen Appell des verstorbenen Papstes und rief der Nation zu, sich nicht zu fürchten.

Wie Jeff Fountain, Europa-Leiter der evangelischen Organisation „Jugend mit einer Mission“ (JMEM) schreibt, hat der Herr des Elysée allen Grund, sich zu fürchten. (Mit der TV-Sendung nahm die Ablehnung zu.) Denn im Unterschied zum Papst habe Chirac keinen Glauben an einen Gott, der die Geschichte lenkt.

„Fürchtet euch nicht!“

Was der Papst seinen Landsleuten 1979 – zehn Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer – zurief, gründete in seinem Glauben, dass die Geschichte auf ein Ziel zugeht. „Glaube gibt Augen, das zu sehen, was sonst nicht zu sehen ist. Glaube gibt Gründe, warum wir uns nicht ängsten sollten“, schreibt Fountain.

Dagegen glaube Chirac als Säkularist nur, dass es nichts Festes zu glauben gebe. Und diese Haltung, schreibt der JMEM-Leiter Monsieur le Président ins Stammbuch, „schneidet Sie ab vom ganzen Bereich der Transzendenz, von der geistlichen Wirklichkeit. Sie blendet Sie; gewisse geschichtliche Perspektiven für die Zukunft können Sie so nicht sehen.“

Einer, der sich nicht blenden liess

Fountain erinnert an die letzten Tage des Apostels Paulus in römischem Gewahrsam. „Er war viel mehr von der Kraft von Jesus Christus beeindruckt als vom Pomp von Julius Cäsar. Seine letzten Tage verbrachte er, indem er seine Begeisterung für das Reich Gottes – nicht das Römerreich – verbreitete.“ Paulus sah die Zukunft. Rom fiel.

Chiracs Nein zu einer Erwähnung Gottes und des christlichen Erbes in der EU-Verfassung gibt Fountain zu denken. Denn der Kontinent sei einst durchs Christentum zu seiner Identität gelangt. Die Franzosen – oder jedenfalls die Säkularisten unter ihnen – meinten, die Aufklärung habe ihnen Freiheit von der Religion gebracht. Anderswo, merkt Fountain an, wurde die Aufklärung hochgehalten, weil sie Freiheit für Religion (nämlich nicht staatskirchlich kontrollierte) brachte.

Freiheit von Religion – oder Freiheit für Religion?

Der bekannte Leiter, der das evangelische Netzwerk „Hope for Europe“ moderiert, nimmt in seinem Offenen Brief an Chirac kein Blatt vor den Mund: „Ihre elitäre Form des Säkularismus geht davon aus, dass Sie und Ihresgleichen wissen, was für alle anderen das Beste ist.“

Doch sei es nicht die Aufgabe des Staates, säkular zu sein und Religion in der Öffentlichkeit zu unterdrücken (gesetzliches Kopftuch-Verbot); er habe vielmehr neutral zu sein und zu ermöglichen, dass Gläubige und Nicht-Gläubige einander gleichberechtigt begegnen können. Dies ist nach Fountain nicht der Fall, wenn aktive Gläubige, die ihre Tradition ernst nehmen, ständig in die Fundamentalisten-Ecke gedrängt und für alle möglichen Probleme verantwortlich gemacht werden.

Die letzten Fragen bleiben im Raum

Europas Säkularismus ist in einer Krise. In Paris reden Intellektuelle seit Jahren von einer Rückkehr der Spiritualität. Fountain zitiert Frédéric Lenoir, der vom Verlangen nach Sinn schreibt und erklärt, die meisten ultramodernen Individuen müssten sich immer noch mit den grossen Fragen nach ihrem Ursprung, nach Leiden und Tod herumschlagen.

Abschliessend zitiert Fountain den grossen französischen Denker Alexis de Tocqueville, der bereits vor 170 Jahren, nach einer Amerikareise, schrieb, Religion sei für demokratische Gemeinwesen viel wichtiger als für andere.

Datum: 04.05.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service