Warum ist das alte Europa so müde geworden? Auswege aus der Depressivität

müde

Wer ständig müde ist, sollte dringend nach den Ursachen seiner Schwäche fragen. Drei Antworten liegen nahe: Entweder werde ich langsam alt. Dann kann ich auch nicht mehr erwarten, die Kraft eines jungen Menschen zu besitzen. Oder: Es kann sein, dass ich den Zugang zu den Quellen, aus denen mir immer neue Kraft zufliesst, verloren habe. Endlich: Ich setze meine Kräfte falsch, das heisst für falsche Ziele ein.

Europa – ein Greis?

Kulturgeschichtliche Theorien vergleichen manchmal Kulturen mit Individuen, die einmal jung und kraftvoll starten, dann langsam und in heftigen Krisen reif werden, später lange stabil bleiben, im Alter ihre Kraft verlieren und am Ende sterben. War es nicht so mit den Ägyptern, den Babyloniern, den Griechen, Römern und Germanen? Was liegt näher als die Folgerung: Europa ist ein Greis. Seine Müdigkeit ist ein Zeichen dafür, dass es dieser alte Herr (oder ist sie eine Dame?) wohl nicht mehr lange machen wird.

Ehrlich gesagt: Ich halte nichts von jener latenten Depressivität, die das Ende der europäischen Kultur für unabweisbar hält. Im Gegenteil: Ich halte solche pessimistische Kulturhaltung auch vieler Christen für eine Fehldiagnose, die menschlich unfein ist, wesentliche Beobachtungen ausblendet und obendrein die Kraft des Evangeliums verkennt.
Sie werden mir vorhalten: Wir verlieren zunehmend christlichen Einfluss. Meine Antwort: Wir verlieren zunehmend bisherige Machtmöglichkeiten, christliche Impulse durchzusetzen. Wir verlieren damit aber nicht das Evangelium, das uns selbst und unsere Gesellschaft verwandeln kann und will. Die Kraft, die das Evangelium in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung besass, wohnt heute noch in ihm.

Veränderte Menschen

Wenn Sie die Kultur verändern wollen, dann verändern Sie einen Menschen! Am besten natürlich sich selbst und ihre eigene pessimistische Grundsicht. Der beinahe unglaubliche Wandel der vielen antiken Kulturen zu einer europäischen Kultur hatte seinen einfachen Grund darin, dass das Evangelium einzelne Menschen verwandelte und zu festen Lebensgemeinschaften verband.

Wer seither in dieser Welt etwas verändert hat, hat daran geglaubt, dass solcher Wandel möglich ist und Sinn macht. Ist das bloss positives Denken? Nein. Es ist die Kraft, die aus dem Glauben kommt, dass Gott allein diese Welt gehört. Wer betet: «... denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit...» und am Ende noch «Amen» sagt, der bekennt sich zu dem Gott, dem Europa und die ganze Welt gehört. Dann soll er auch endlich daran glauben.

Ob Europa müde geworden ist? Eines ist evident: Die Christen sind müde geworden.

Intakte Quellen

Mut macht mir die zunehmende Sehnsucht vieler Menschen, geistlich zu leben und sich auch geistlich begleiten zu lassen. Geistliche Übungen, Wochenenden der Stille, Kloster auf Zeit ... all das wird zunehmend von Menschen aller Schichten aufgesucht. Die Quellen geistlicher Kraft sind nicht verschüttet. Gott lässt sich finden. Meditation, Kontemplation und Herzensgebet sind die drei grossen Spuren, auf denen jeder Mensch seine eigene Praxis entwickeln darf. Wer seinen eigenen geistlichen Weg sucht, der hat den wesentlichen Schritt aus seiner eigenen Müdigkeit bereits getan.

Wachheit durch klare Ziele

Kraftvoll lebende Menschen und Gruppen haben eines gemeinsam: Sie haben Ziele, die ihre eigene Existenz übersteigen. Wer bloss für sich da ist, im eigenen Fortkommen, ja sogar in der eigenen Familie sein letztes Ziel findet, der soll sich nicht wundern, wenn er dabei müde wird. Das eigene Leben taugt nicht dazu, Ziel für das eigene Leben zu sein. Viktor Frankl lernte im Konzentrationslager, was Jesus seinen Jüngern nachdrücklich auf den Weg gab: «Wer sein eigenes Leben als letztes Ziel sucht, der wird es verlieren. Wer es aber hingeben kann, weil er ein grösseres Ziel hat, der wird es finden und bewahren» (Matthäus 10,39).
Was Jesus da sagt, ist eine Grundwahrheit jeden menschlichen Lebens. Ohne sie bleibt man müde.

Gemeinsames Leben

Etwas muss noch hinzugefügt werden. Glauben war von Jesus nie als Einzel-Leihgabe gemeint. Den Christen als Einzelgänger gibt es nicht. Glauben, der unserer Gesellschaft eine kraftvolle Alternative entgegenstellen kann, setzt Formen gemeinsamen Lebens voraus. Hier werden Kräfte frei, hier werden Schwächen ausgeglichen, hier geht die gemeinsame Schau des Zieles, das Gott uns gesetzt hat, nicht verloren. Über Jahrhunderte hinweg haben wir uns den Luxus geleistet, unseren Glauben individuell zu leben und zu pflegen. Mag sein, dass diese Zeit nun vorbei geht. Zeit wird es dafür.

Datum: 23.04.2005
Autor: Wolfgang Bittner
Quelle: Chrischona Magazin

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