Russlands Kirchenszene in Bewegung

Wachsende neue Gemeinden, unterdrückte Aufbrüche – und Auswanderung

Was haben die Christen in Russland aus der Freiheit gemacht, die ihnen mit dem Zerfall der gottlosen kommunistischen Herrschaft vor 15 Jahren zufiel? Der russlanddeutsche Missionswissenschaftler und Evangelist Dr. Johannes Reimer, der das Land jedes Jahr bereist, zieht im Gespräch mit Livenet ein ernüchterndes Fazit – mit vielen hellen Tupfern.
Nüchtern und hoffnungsvoll: Johannes Reimer
Taufe im Fluss Oka
Mit westlicher Hilfe wurde dieses verlassene Haus in eine Kapelle umgewandelt.
Kirche in St. Petersburg

Livenet: Johannes Reimer, die Russen haben Putin als Präsident bestätigt. Sie wollen Stabilität und Ordnung. Ist nach der Erregung, die mit den Tausendjahrfeiern der Christianisierung 1988 durchbrach, und den bewegten Neunzigerjahren in den evangelischen Kirchen Russlands Ruhe eingekehrt?
Johannes Reimer: Was verstehen wir unter Ruhe? Wenn Ruhe Stabilität und praktisch Bewegungslosigkeit bedeutet, ist das weder politisch noch kirchlich so. Mit Putin kommt zwar Stabilität ins Land, aber wenn man sich die wirtschaftliche Entwicklung ansieht, ist das eine Stabilität mit Zukunft.

Ich habe persönlich zwar keine grossen Sympathien für den Präsidenten. Doch was er insgesamt fürs Land getan hat, wirkt sich heute sowohl für die Mehrheit der Bevölkerung als auch für die Wirtschaft positiv aus.

In den Kirchen ist das in vielen Fällen ähnlich. Die russisch-orthodoxe Kirche sucht nach stabilen Strukturen. Alle traditionellen Kirchen tun das, aber sie haben keine Mehrheit mehr. Die Szene ist mittlerweile so bunt, und das vitale, lebendige Element findet sich nicht bei den traditionellen Kirchen.

Haben neue Initiativen in der Orthodoxie eine Chance? Vor Jahren wurde die Moskauer Gemeinde von Vater Kotschetkow, der die Liturgie erneuern wollte, von der Kirchenleitung abgewürgt.
Solche Aufbrüche werden auch heute noch abgewürgt. Die Kirche hat immer noch eine grosse Macht. Zur Zeit findet deshalb eine Art innerkirchlicher Emigration statt. Erweckte Kreise bilden Klöster, monastische Gemeinschaften und Bruderschaften mit neuartigen Regelungen – aber sie bleiben in der Kirche. In Russland ist nichts von dem zu sehen, was in der Ukraine geschehen ist; dort hat die orthodoxe Kirche sich in mittlerweile fünf orthodoxe Denominationen aufgespalten.

Zum Anderen kommt bei erwecklichen Aufbrüchen in Russland vermehrt eine Kooperation zwischen Protestanten und diesen erwecklich orientierten Orthodoxen zustande. Ich weilte im März in St. Petersburg; da führt der Dekan der orthodoxen Akademie, Professor Fjodorow, eine kirchenübergreifende Arbeitsgemeinschaft an. Sie schliesst praktisch nahezu alle neueren protestantischen Bewegungen ein. Wie so oft bleiben die traditionellen Kirchen, etwa die Evangeliumschristen-Baptisten, aussen vor.

Auch ein Professor ist, wenn er nicht als Diakon oder Priester ordiniert wurde, für die orthodoxe Kirche ein Laie. Die Laienbewegung ist sehr gross. Eine der grössten Ausbildungsstätten ist die christliche humanitäre Universität in Petersburg und Moskau.

Ihre orthodoxe Leitung ist ausgesprochen protestantenfreundlich. Zum Beispiel hat sie den Charismatikern, den Pfingstlern und auch den Unabhängigen das Angebot gemacht, dass sie ihre Ausbildungsgänge selbst durchführen, sich aber für deren staatliche Anerkennung unter das Dach der Universität begeben können. Das wäre vor Jahren undenkbar gewesen. Die Universität fördert so direkt die Entwicklung protestantischer Gemeinden.

In der Ukraine gründen die Baptisten jedes Jahr mit traditionellen Methoden viele Dutzend neue Gemeinden. Wie sieht das in Russland aus?
Die beiden Länder sind zwei Paar Schuhe. Was in der Ukraine stattfindet, ist in Russland nie so passiert. Die ukrainische Situation ist einmalig für den gesamten ehemals sowjetischen Block. In Russland nehmen die Evangeliumschristen-Baptisten (EChB) an Zahl ab. In den zentralrussischen Regionen wie Uljanowsk und Samara an der Wolga zählt man heute viel weniger Gemeinden als vor Gorbatschow.

Gemeinden sterben aus, vor allem infolge einer massiven Emigration nach Deutschland, in die USA oder nach Portugal. Wir haben heute mehr gläubige Russen in Portugal als in manch einer russischen Grossstadt. Auch London hat bereits vier grosse russische Baptistengemeinden. Eine Millionenstadt wie Samara hat immer noch bloss eine. Da merkt man, dass viele ausgewandert sind. Die Gemeinden bluteten aus. Jene, die im Land blieben, hatten wenig Kraft und auch keinen Zugang zur Bevölkerung.

Umgekehrt heisst das: Die ukrainischen Baptisten haben die Aufgabe, das Evangelium in ihrer Umgebung weiterzugeben, immer in ihrem Land gesehen, auch wenn Mittel, Mitarbeiter und Gebäude fehlen.
Die Ukrainer stellten schon immer den Grossteil der Baptisten und der Pfingstler. In der Sowjetzeit galten sie oft als Russen, aber es waren eben zum grossen Teil Ukrainer. Kommt dazu, dass Russen von ihrer Mentalität her grosse Mühe haben zu leiten.

Die Leitung in den alten EChB-Gemeinden war meistens entweder deutsch oder ukrainisch. Dort wo diese Elemente weggezogen sind, in den Westen oder in die Ukraine (denn man muss sich entscheiden zwischen einem russischen oder einem ukrainischen Pass), blieben die Gemeinden ohne Leiter.

Wie sieht´s in den neuen evangelischen Gemeinden Russlands aus? Seit 1990 wurden viele Gemeinden gegründet.
Es gibt in Russland über 120 neue protestantische Denominationen. Die Zahl der Gemeinden liegt wohl bei weit über tausend, Genaueres lässt sich nicht sagen. Wir gehen heute davon aus, dass die neuen charismatischen Gemeinden den grössten Block darstellen. Sie geben eine Mitgliedschaft von etwa 600'000 Personen an.

Man muss diese Angabe mit Fragezeichen versehen. Realistischer sind nach meiner Meinung 150'000 Anhänger. Die Baptisten geben heute in Russland 72'000 getaufte Gemeindeglieder an; das scheint realistisch. Dann wäre der neue Block mindestens doppelt so gross.

Gibt es denn Ausnahmen: Baptisten, die sich geöffnet und Tochtergemeinden gegründet haben?
Ja, natürlich, denn sonst wären sie nach den Auswanderungswellen weg vom Fenster. Die Baptisten haben Hunderttausende verloren. Wir haben heute in Deutschland 365'000 Gottesdienstbesucher in den Aussiedlergemeinden, die aus den EChB-Gemeinden der früheren Sowjetunion auswanderten. In den USA sind es vermutlich 200'000. Sie sind in Massen ausgewandert. Dieser Aderlass spielt eine gewaltige Rolle.

Im Fernen Osten, im Umkreis von Chabarowsk, Tschita und Irkutsk, gibt es viele neue Gemeinden, kleine, oft sehr vitale, lebendige Gemeinschaften. Auch in anderen grossstädtischen Gebieten, um Moskau herum.

Der Baptistenbund hat viele dieser Gemeinden möglich gemacht, doch kann er sie nicht halten. Sobald die Gemeinde wächst, wird sie in den Augen der Moskauer Kirchenleitung zu charismatisch – und dann verlässt die Gemeinde den Bund. Exemplarisch geschieht das jetzt in Tuschino bei Moskau mit einer sehr vitalen, jungen Gemeinde, die bei Null begann und heute um die tausend Gottesdienstbesucher zählt.

Datum: 21.04.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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