«Durch Gottes Kraft und Güte konnte ich viele Hindernisse überwinden»
Das schwere Erdbeben vor vier Jahren in Nepal
zerstörte auch Lok Kumaris Haus. Die alleinstehende Mutter rackerte sich eh
schon ab, um die Mitgift für ihre sechs Töchter zu beschaffen. Im Rückblick
bezeugt sie heute, was ihr durch die schwere Zeit geholfen hat. Paola Bariola von Medair Schweiz berichtet über ihren Besuch bei Lok Kumari.
Lok mit ihrer Tochter Rasmita
Um sieben Uhr in
der Frühe steht die Sonne über Dhobi bereits hoch am Himmel und im kleinen Dorf
herrscht ein reges Treiben. Meine Team-Kollegen und ich sind auf dem Weg zu
einer Familie, die einige Kilometer ausserhalb wohnt. Eine schmale Strasse
schlängelt sich zwischen den Hügeln hinauf zu ihrer Hütte. Das letzte Stück
gehen wir zu Fuss. Der Feldweg führt zu zwei Häusern, die unmittelbar
nebeneinanderstehen. Das eine Haus ist neu und in fröhlichen Farben gestrichen.
Das Haus daneben sieht schwer beschädigt aus.
Auf der Veranda
sitzt ein Mädchen und schaut zu, wie seine Mutter die Wäsche aufhängt. Als die
beiden uns erblicken, lassen sie alles stehen und liegen, um uns zu begrüssen.
Gastfreundschaft geniesst in Nepal einen hohen Stellenwert. Schnell holt die
Frau vier Stühle und bittet uns, Platz zu nehmen. Mithilfe eines Dolmetschers
wechseln wir erste Worte. Unser Gespräch, das herzlich, aber etwas zaghaft
beginnt, wird von Minute zu Minute lebhafter.
Alleine mit sechs Töchtern
Mutter Lok Kumari
ist eine starke Frau. Sie hat schon vieles durchgemacht: «Vor sieben Jahren
starb mein Mann. Ein Jahr später verlor ich noch eins meiner Kinder, das an
einem schweren Geburtsfehler gelitten hatte», vertraut sie uns an. Seither ist
sie alleine für ihre Töchter verantwortlich. «Ganz alleine für sechs Mädchen zu
sorgen, ist eine enorme Herausforderung», sagt sie, während sie ihrer kleinen
Rasmita liebevoll durch die Haare streicht. Lok erklärt, dass es in Nepal zur
Tradition gehört, bei der Hochzeit eines Mädchens für eine Mitgift zu sorgen.
Doch das «Brautgeld» für ihre Töchter ist nicht das Einzige, was Lok über die
Jahre zu schaffen machte. Am 25. April 2015 wurde das Haus der Familie von
einem heftigen Erdbeben getroffen und schwer beschädigt.
Zwar steht das
Haus noch, doch tiefe Risse ziehen sich durch die Wände und Aussenmauern. «Zwei
Jahre lang harrten wir im Viehstall aus», erinnert sich Lok. Sie zeigt mir den
kleinen Schuppen, der keine richtigen Wände hat und lediglich mit Zweigen
überdacht ist. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was es bedeuten muss, mehr
als zwei Jahre unter diesen Bedingungen zu leben.
Das neue Haus ist «Rambro»!
Doch Lok hat den
Mut nie aufgegeben. Mit Unterstützung der Hilfsorganisation Medair und einer
lokalen Partnerorganisation gelang es ihr, beim Staat Finanzhilfe für den
Wiederaufbau ihres Hauses zu beantragen und das neue Haus konnte gebaut werden.
Ich frage die neunjährige Rasmita, ob ihr das neue Zuhause gefällt. «Na klar»,
antwortet sie wie aus der Pistole geschossen. «Es ist Rambro!». Auf Nepalesisch
bedeutet «Rambro» so viel wie wunderschön, farbig – einfach genau richtig.
«Ab und zu gehe
ich noch in unser altes Haus, um dort das Essen vorzubereiten», gesteht Lok.
«Doch dann schimpft Rasmita mit mir. Geh nicht in das alte Haus, sagt sie dann.
Das ist viel zu gefährlich!»
«Wenn meine Kinder glücklich sind, bin ich es
auch»
Lok zieht uns ins
Vertrauen: «Ich wünsche mir sehr, dass ich meine Töchter zu guten Menschen
erziehen kann. Es wäre schön, wenn sie später einmal einer sinnvollen Arbeit
nachgehen und den Schwächsten helfen würden – so wie ihr es tut. Am wichtigsten
ist mir jedoch, dass sie die Freiheit haben, selbst über ihr Leben zu
bestimmen. Dass sie unabhängig sind. Ich bin froh, dass sie die Schule besuchen
können. Dieses Glück hatte ich leider nicht. Ich bin Analphabetin. Amtliche
Dokumente unterzeichne ich mit meinem Fingerabdruck. In solchen Momenten schäme
ich mich zutiefst. Ich möchte nicht, dass meinen Töchtern das Gleiche
widerfährt. Es geht mir wie allen Müttern auf dieser Welt: Wenn meine Kinder
glücklich sind, bin ich es auch.»
«Alles kommt gut»
Gegen neun Uhr
kommen zwei von Loks Töchtern nach Hause, auf den Schultern tragen sie Behälter
voller Gras für die Tiere. Die drei Mädchen waschen sich mit Wasser aus einem
Eimer und setzen sich anschliessend in die Küche. Zwischen zwei Bissen
schlüpfen sie in ihre Schuluniformen. Wohl ein Morgen wie jeder andere, der
mich, auch wenn wir uns in 4000 Metern Höhe in den Bergen Nepals befinden,
stark an meine eigene Kindheit erinnert. Die Kinder drücken ihrer Mutter einen
flüchtigen Kuss auf die Wange und machen sich auf den Weg in die Schule.
Lok und ich bleiben alleine in der Küche zurück. Ich
sage ihr, dass ich sie sehr bewundere und frage sie, wie sie es nur geschafft
hat, die vielen Widrigkeiten in ihrem Leben so gut zu meistern. Gelassen
antwortet sie: «Ich glaube an Gott. Durch Seine Kraft und Seine Güte war es mir
möglich, so viele Hindernisse zu überwinden. Ich lebe im Hier und Jetzt – und
blicke gleichzeitig voller Hoffnung in die Zukunft. Alles kommt gut, davon bin
ich überzeugt». Wir nehmen Abschied. Mir ist bewusst, dass ich Lok wohl nie
wiedersehen werde. Aber ihre Worte und ihre Gesten werden mir immer in
Erinnerung bleiben.