„Gott ist an uns interessiert, deshalb spricht er auch unsere Sprache“

Ein tschetschenisches Mädchen freut sich über das Buch von Jesus.
„Gott spricht auch unsere Sprache“: Nadr packte die Übersetzung für seine kurdischen Landsleute gleich selbst an.
Völkerpuzzle zwischen Russen, Türken und Iranern: die Sprachgruppen Kaukasiens in einer englischen Publikation.
In den Ruinen der Schule von Beslan haben die Hinterbliebenen auch Wasserflaschen aufgestellt, zum Gedenken an die Kinder, die tagelang extremen Durst litten.
Marianne Beerle-Moor
Worte des Lebens für ein Volk in Angst: das Neue Testament in Ossetisch.

Im Kaukasus nehmen manche Muslime das Evangelium als Heiliges Buch an – wenn es in ihre Sprache übersetzt ist. Für die gebeutelten nichtrussischen Völker der Region sind die Bibelteile ein Lichtblick. In den Tagen der Terror-Katastrophe in der Schule von Beslan kam das Neue Testament für die Osseten aus der Druckerei.

Das Evangelium, arabisch Injil genannt, ist gemäss dem Koran ein heiliges Buch; die Christen gelten als Schriftbesitzer. Daher lassen sich manche gottesfürchtigen Muslime im Kaukasus – und auch in anderen Gebieten der früheren Sowjetunion – auf eine Evangelien-Übersetzung ein. Eine Kalmückin organisierte noch im Alter von 99 Jahren (!) einen Bibelkreis in ihrem Haus. Sie hatte entdeckt, dass Gott kein russischer Gott, sondern auch für die Kalmücken da ist.

Lukas-Evangelium als Bestseller

Im Vordergrund steht der Bericht des Lukas, wie Dr. Marianne Beerle-Moor letzte Woche in einem Vortrag in Bäretswil im Zürcher Oberland darlegte. Die Sprachwissenschaftlerin leitet das IBÜ, das Institut für Bibelübersetzung in Moskau. 1973 gegründet und zuerst in Stockholm ansässig, nahm es Übersetzungen für die 130 nicht-slawischen Sprachen in der Sowjetunion (85 Millionen Menschen) an die Hand.

Erinnerung an christliche Vergangenheit

In Kaukasien (Hügel- und Bergland von der zehnfachen Fläche der Schweiz) strahlte die Botschaft der Bibel einst von den christianisierten Völkern der Armenier und Georgier in die Völker hinein. Doch wurden die Völker und Stämme im Osten der Region ab dem 12. Jahrhundert, jene im Westen ab dem 17. Jahrhundert islamisiert.

Mit der Sprache der Russifizierung getrotzt

Jedes Jahr erscheinen Evangelien und andere Bibelteile für Völker, die zuerst von den Zaren – im Namen des rechten Glaubens – und dann von den Kommunisten – im Namen des gottlosen Fortschritts – unterdrückt und russifiziert worden waren. Bisher hat das Institut Bibeln, Testamente und Bibelteile in 74 Sprachen herausgebracht.

Übersetzungen aus Geldmangel sistiert

Ständig werden neue Wünsche an das ohne finanzielle Reserven arbeitende IBÜ herangetragen. Aus Mangel an Geld und Mitarbeitern liegen 9 der 28 kaukasischen Projekte derzeit auf Eis.

Marianne Beerle machte die Unterschiede zwischen den Sprachfamilien und die Schwierigkeiten beim Übersetzen deutlich: Was wenn ein Volk weder Trauben noch Oliven kennt, weil es im hohen Norden im Permafrost lebt? Anderseits berichtete sie, dass eine Chakassin in Mittelasien 40 Jahre für ein Evangelium in ihrer Sprache betete – bis sie es in den Händen hielt.

Es kommt auf Einzelne an

Ein Phonetikprofessor aus dem Ural entdeckte, dass ihm das Übersetzen mehr innere Befriedigung verschaffte als die Lehrtätigkeit. Für seine 150'000 kurdischen Landsleute im Kaukasus begann Nadr in den 80-er Jahren – ohne die entsprechende Ausbildung – mit der Übersetzung, in der Überzeugung: „Gott ist an uns interessiert, deshalb kann er auch unsere Sprache sprechen.“ Gerade jenen Kurden, die bei den Kämpfen um Berg-Karabach fliehen mussten, bedeutete das Neue Testament viel. Nun wird das Alte übersetzt.

Das ossetische Neue Testament, das erste in zeitgemässer Sprache, sollte im Herbst 2004 in einer Feier übergeben werden. Sie wurde infolge der Katastrophe in der Schule von Beslan auf Januar verschoben. Nachdem es in vielen Häusern Trost gebracht hat, soll das Testament zusammen mit den Psalmen nachgedruckt werden.

Postsowjetische Öffnung nach Abschottung

In manchen Völkern heissen auch hohe Beamte und die Führer der anderen Religionen (Buddhisten und Schamanen) die Bibel als wichtiges Buch der Weltliteratur willkommen. „Je kleiner das Volk, desto mehr Dankesbriefe erhalten wir“, sagte die aus Zürich stammende Sprachwissenschaftlerin in ihrem faszinierenden Vortrag.

Völker, die mit mündlicher Überlieferung leben

Das Institut produziert mit dem Bibelteil oft Kassetten, damit auch jene, die ihre Muttersprache nicht lesen mögen (weil es kaum Literatur gibt), das Evangelium aufnehmen können. Zudem werden Erzählseminare durchgeführt.

Marianne Beerle erklärte, warum die Übersetzungen in der Regel länger dauern als in anderen Weltgegenden. Für eine günstige Aufnahme der Schrift ist das Ja von wichtigen Persönlichkeiten im kulturellen und religiösen Leben des Volks wichtig; sie werden daher als Probeleser früh einbezogen.

Moskauer Ehrendoktor für IBÜ-Direktorin Marianne Beerle
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/193/25125/

30-Jahr-Jubiläum des Instituts für Bibelübersetzung, Moskau
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/199/11378/

Datum: 21.07.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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