Irakischer Wille zur Selbstbestimmung – und die Nicht-Muslime?

Irakische Christin
Salim Lone
Mandäeische Priester

Die Anschläge und Drohungen der Terroristen haben die Iraker nicht davon abgehalten, mit einer beachtlichen Beteiligung ihre Nationalversammlung zu wählen – ein grelles Signal für die Machthaber in der arabischen Welt. Bessert sich nun die verzweifelte Lage der nicht-muslimischen Minderheiten im Irak?

Die ersten pluralistischen Wahlen im Irak in 50 Jahren sind ein heller Streifen am Horizont. Sie garantieren zwar noch keineswegs, dass der vom Diktator befreite Staat auf die Füsse kommt, in seinen (einst von den Briten gesetzten) Grenzen erhalten bleibt und für alle seine Bewohner Freiheit schafft. Dass die Sunniten, in Saddam-Nostalgie gefangen, von ihren Politikern nicht in den demokratischen Prozess eingewiesen wurden, ist bedenklich genug. Aber die sehr hohe Wahlbeteiligung in den Schiiten- und Kurden-Gebieten und jenen Teilen Bagdads, die nicht unter der Fuchtel der Terroristen stehen, weist die Wahlen als Meilenstein aus.

So unvollkommen der Wahlgang, so verrückt die Umstände – der 30. Januar 2005 strahlt als Signal aus in die arabische Welt. Dort regieren, wie die NZZ anmerkt, „normalerweise starke Männer, steht gewöhnlich nur eine Partei reell zur Auswahl, wird die Macht von diktatorischen Vätern an leibliche Söhne weitergereicht, die im Geheimdienst ausgebildet wurden. Wirklicher, friedlicher, geregelter oder gar demokratisch bestimmter Machtwechsel ist nur vom Hörensagen her bekannt.“

„Wann gibt es freie Wahlen bei uns?“

Nun machen es die Iraker – unter westlicher Besetzung – vor. Betretenheit herrscht daher unter arabischen Kommentatoren. In Syrien gab es am Montag in den amtlichen Medien keine Einschätzung. Die saudische „Arab News“ schaltete einen Kommentar des Londoner „Guardian“ auf, in dem der frühere UNO-Beamte Salim Lone die Aufständischen bloss in einem Satz erwähnt: Sie würden dadurch gestärkt, wie schon von früheren US-diktierten Schritten zur Selbstbestimmung. Die USA hätten den Irak zerstört; der schiitische Ayatollah Al-Sistani, der bei den Wahlen mitgemacht habe, habe allein die Vorherrschaft seiner Religionsgemeinschaft im Kopf.

Das Aufkommen der nicht-arabischen Kurden im Norden und der Schiiten im Süden des Zweistromlandes beunruhigt die Sunniten, die grosse Mehrheit der arabischen Muslime, deren Empörung über das dominante Auftreten der USA im Nahen Osten nicht nachlässt. So wird, wie Ramzy Baroud vom Fernsehsender Al-Jazeera in einem Kommentar schreibt, das „verzweifelte“ Bedürfnis der Araber nach politischer Mitwirkung in ihren Ländern überlagert vom Nein zu der Sorte Demokratie, die von der Supermacht aufgezwungen wird.

Sehnen nach Demokratie – aber ohne westliche Vorherrschaft

Zwar ersehnten Araber Demokratie, „weil ihnen Rechte vorenthalten werden und weil sie weder auf ihre persönliche noch auf ihre kollektive Zukunft wirklich Einfluss nehmen können.“ Doch Demokratie im Schatten der Besetzung sei keine willkommene Option, schreibt der erfahrene Journalist. Wie (nicht nur) im Nahen Osten üblich, wird Präsident Bush auch hier unterstellt, er wolle den Irak ausbeuten.

Baroud schreibt, dass die meisten Araber die demokratischen Gepflogenheiten in der westlichen Welt tief bewundern, weil sie unerhörte Freiheiten und Wohlstand ermöglichen. „Aber das Rad der westlichen Demokratie kommt zum Stehen oder schlägt einen völlig anderen Kurs ein, sobald es den Nahen Osten erreicht; die Werte, der Stil und die Ziele werden anders.“ In diesem Satz kommt die kulturelle Kluft zum Westen zum Ausdruck, die durch die alle Lebensbereiche durchdringende Präsenz des Islam verfestigt wird.

So misstrauen, schreibt Baroud, die meisten Araber Bushs Versprechungen. Er erinnert daran, dass es der amerikanische Geheimdienst CIA war, der 1953 „die erste wirkliche Demokratie“ in der Region zu Fall brachte – mit dem Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh und der Installierung des Schahs.

Können die Nicht-Muslime im neuen Irak leben?

Wie lange die ausländischen Truppen auch bleiben: Der Iraker wollen Freiheit und Sicherheit – und die Mehrheit lässt sich auf den von den USA gestalteten Prozess ein. Neben der Bekämpfung der Aufständischen wird für die Zukunft des Irak entscheidend sein, welche Rolle die einheimischen Politiker dem Islam einräumen – und welche Garantien sie den religiösen Minderheiten geben.

Werden die „Leute des Kreuzes“, von denen viele Zehntausende bereits aus dem zentralen Irak geflüchtet sind, ihren Glauben im Land leben können? In einem Schreiben vom 27. Dezember, das von Osama bin Laden stammen soll, ist von einem „schicksalhaften Krieg zwischen Unglauben und Islam, zwischen der Armee Mohammeds, der Armee des Glaubens und den Leuten des Kreuzes“ die Rede. Als ob die ethnische Zerrissenheit nicht genug wäre, droht religiöser Fanatismus die wehrlosen Nicht-Muslime im Land zu vernichten.

Terror gegen die Mandäer

Auf die Sicherheitskräfte können sich die Christen an manchen Orten nicht verlassen; die Beamten lassen die Extremisten gewähren. Wer schützt die weiteren Minderheiten: die Mandäer, die wenigen verbliebenen Juden und muslimische Sondergruppen? Mehrere Priester und Leiter der Mandäer wurden Anfang Januar ermordet, offensichtlich um die Gemeinschaft zu zerschlagen und die Menschen in die Flucht zu treiben. Entführte konnten sich nicht freikaufen – sie sollten ihrem Glauben abschwören.

Am 16. Januar wurde der Mandäer-Führer Riadh Radhi Habib, als er mit seinen Kindern zum Auto gehen wollte, von drei Muslimen mit Maschinenpistolen aufgefordert, zum Islam überzutreten. Er lehnte ab. Sie schossen ihm eine Kugel in den Kopf; er fiel zu Boden. Als die Kinder sich auf ihn warfen, rissen sie sie weg und zerfetzten Habibs Körper mit weiteren 90 Schüssen – vor den Augen seiner Kinder.

Weiterer Artikel:
Unter allen Rädern: Die irakischen Christen vor den Wahlen

Datum: 02.02.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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