Dschihad-Debatten und Reformforderungen in der arabischen Welt

Koran-Seite

Schwerer als die Muslime hierzulande, die sich von islamistischen Extremisten distanzieren, haben es ihre Brüder in der arabischen Welt. Dort mehren sich Stimmen, die eine andere Auslegung des Koran anregen, um den Fanatikern zu wehren.

Warum verunstaltet so viel Gewalt das Angesicht des Islam? Der Nahostkorrespondent der New York Times, Neil MacFarquhar, schildert Versuche von gemässigten Muslimen, eine Debatte in Gang zu bringen. Sie wollen die Aufrufe zur Gewalt im Koran neu gelesen haben – als zeitbedingt und heute nicht mehr bindend. Sie meinen, nur durch eine solche Neu-Auslegung lasse sich das Ansehen des Islam in der Welt wiederherstellen.

Doch im Glauben der traditionellen Muslime ist der Koran vom Himmel gefallen. Und die Sunna, die Überlieferung von Mohammeds Leben, ist bindend, jedenfalls für die Sunniten. Die Versuche kleiner Gruppen, die dies in Frage zu stellen wagen, treffen auf heftigste Ablehnung.

An einer Medienorientierung nach einem Seminar in Kairo konnten die Journalisten keine Fragen stellen, weil Islamisten die Veranstalter niederschrien. Im Seminar ging es um „Islam und Reform“; die Gruppe forderte eine Neu-Interpretation der koranischen Texte. „Lügner! Lügner!“ wurden sie von Islam-Gelehrten und Fanatikern angeschrien. “Ihr seid alle Zionisten! Ihr seid alle Ungläubige!” Der Oberscheich der Al Azhar Moschee, der führenden Hochschule der Sunniten, bezeichnete sie als Abtrünnige.

Koran-Aufruf zum Töten: nur für eine Situation?

Zur bekämpften Gruppe gehört der Syrer Muhammad Shahrour. Die neunte Sure des Koran beschreibt nach seiner Ansicht einen misslungenen Versuch des Religionsgründers Mohammed, auf der arabischen Halbinsel einen islamischen Staat zu gründen. Sätze wie „Erschlagt die Heiden, wo ihr sie findet!“ seien bloss auf jene Zeit zu beziehen – und jetzt nicht mehr anzubringen, sagt Shahrour.

Der 65-jährige Ingenieur verweist darauf, dass Mohammeds Staatsgründung Geschichte ist. „Aber seine Botschaft lebt weiter. Daher müssen wir zwischen Religion und Politik unterscheiden. Wenn Sie den politischen Islam nehmen, sehen Sie nur Töten, Morden, Vergiften, Intrigen, Verschwörung und Bürgerkrieg. Aber als Botschaft ist der Islam sehr menschlich, einfühlsam und gerecht.“

Kampf gegen das Establishment der Islam-Gelehrten

Drei Jahre nach dem 11. September wird die Diskussion darüber, ob es den friedlichen Islam gibt und wie er vor gewalttätigen Bewegungen in Schutz zu nehmen wäre, zunehmend auch in arabischen Zeitungsspalten geführt. Dabei wagen Nicht-Gelehrte die seit Jahrhunderten geltenden Regeln zur Auslegung des Koran in Frage zu stellen – laut MacFarquhar ein Tabubruch. An einer Konferenz in Marokko, in der es um Demokratie und Freiheit in der muslimischen Welt geht, nimmt heute auch der US-Aussenminister Colin Powell teil.

Liberale arabische Intellektuelle sind entschlossen, das (ihrer Meinung nach angeschwärzte) Bild des Islam zu korrigieren und den Extremisten das Heft aus der Hand zu nehmen. Dies kann nur gelingen, wenn das Monopol über die Auslegung des Koran, die das Establishment der Islam-Gelehrten hütet, aufgeweicht wird.

Die berühmten Schulen wie die Kairoer Al Azhar Moschee und führende Gelehrte blocken ab – namentlich jene, die vom Westen keine Anregungen für freiheitliche, demokratische Reformen entgegennehmen wollen.

Raketen auf Moscheen, enthauptete Geiseln

Die Muslime treibt vor allem das Abschlachten in Irak um. Amerikaner, die Moscheen unter Beschuss nehmen, erregen bittere Wut, aber auch die Aufständischen, die Geiseln vor laufender Kamera den Kopf abschlagen, während unten auf dem Video der Koranvers „Schlägt sie auf den Nacken“ durchläuft. Dazu kommen das Morden in der Schule von Beslan, der Mord an Theo van Gogh, Anschläge und die Drohungen der Terroristen im Internet.

Ibrahim in Kairo betont, dass Widerstand gegen den Feind nie darin bestehen kann, jemand zu kidnappen und ihn öffentlich zu enthaupten. Das sei schändlich, urteilt er und zitiert aus dem Koran den Vers, dass Allah den Zustand der Menschen nicht ändern werde, solange sie ihn nicht selbst ändern.

“Statistisch gesehen sind die meisten Terroristen Muslime”

Gleichwohl stösst es den meisten Muslimen sauer auf, wenn ein prominenter Journalist wie der Saudi Abdul Rahman al-Rashid unangenehme Wahrheiten auftischt. Der Direktor des Satellitensenders Al Arabiya in Dubai schrieb in einer Zeitungskolumne, Muslime müssten sich der Tatsache stellen, dass die meisten terroristischen Untaten von Angehörigen ihrer Religionsgemeinschaft begangen werden.

Gewalt predigen im Namen der Religion: für al-Rashid liegt das Problem in der “modernen Kultur des Radikalismus”. Dies müsse endlich eingestanden werden als eigenes Problem. Die Muslime sollten sich nicht ständig über den Westen beklagen, sondern ihren Extremisten Zügel anlegen. Die Terroristen hätten dem Ruf der Muslime auf der ganzen Welt geschadet, machte al-Rashid seinen Lesern klar.

Alle Amerikaner im Irak vernichten?

Auf der anderen Seite betonen Intellektuelle, Medienleute und Prediger, dass sich die Muslime gegen westliche Übergriffe und Einflussnahmen verteidigen müssen. Die Enthauptung von Geiseln ist für manche Leute in diesem Lager nicht schlimmer als ein Einschlag einer Rakete in ein Haus mit zivilen Bewohnern.

Der aus Ägypten stammende Islam-Gelehrte Scheich Jusef Qaradawi, der durch das Satellitenfernsehen Al Jazira zum vielleicht einflussreichsten sunnitischen Prediger geworden ist, bezweifelte im August, dass es unter den Amerikanern im Irak Zivilisten gebe. Zwar hatte er Enthauptungen von Geiseln verurteilt. Doch nach der Belagerung der Extremistenhochburg Falluja bezeichnete er den Kampf gegen die Besatzer als legitim – und mehr: als Pflicht der Muslime.

Fürs Feindbild Westen gibt’s immer Nahrung

So haben es alle jene Araber schwer, die um ihrer Religion willen eine Kampagne gegen Dschihad und Terrorismus führen möchten. Islam und Gewalt: die Diskussion treibt viele Menschen im Orient um.

Ob sie zu einem neuen Umgang mit dem Koran und der Sunna, der Überlieferung, führt, bleibt abzuwarten.

Ein Mufti im Ostlibanon weist laut der New York Times eine Neu-Interpretation von sich: Man könne den Islam nicht zerteilen, sondern müsse ihn als Ganzes annehmen. Doch was genau gilt, ist im sunnitischen Islam (90 Prozent der Muslime) nicht klar, denn es gibt keine zentrale Autorität, die endgültig entscheidet – die Gelehrten diskutieren immer weiter.

Identitätsstiftender Stolz auf das Schwert

Die vielen tausend Hadith-Sprüche, die Mohammed von sich gegeben haben soll, wurden erst über 100 Jahre später aufgeschrieben, wie der Syrer Muhammad Shahrour unterstreicht. Er und seine liberalen Gesinnungsfreunde finden einen Teil dieser Sprüche, die als Sunna für Sunniten bindend sind, völlig veraltet.

Muslime sollten, fordert Shahrour, ihre Kultur hinterfragen: "Jahrhundertelang hat man ihnen gesagt, dass der Islam mit dem Schwert ausgebreitet wurde, dass alle arabischen Länder und sogar Spanien mit dem Schwert erobert wurden – und wir sind stolz darauf. Im Denken der Leute auf der Strasse ist der Islam die Religion des Schwerts. Das ist unsere kulturelle Prägung; wir müssen sie ändern.”

Datum: 11.12.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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