Weissrussland: Eine Gesellschaft entdeckt wieder ihre Seele

Orthodoxe Kirche in Minsk

Im Korridor des neuen diakonischen Zentrums der orthodoxen Kirche am Stadtrand von Minsk hängen Dutzende von Portraits bärtiger junger Männer mit fein geschnittenen Gesichtszügen und fragenden Augen. Zwei Dinge haben diese Portraits gemeinsam: alle Männer waren Priester und alle sind, wie eine kleine Inschrift besagt, in den 1930er Jahren gestorben.

Ein genauerer Blick zeigt, dass diese Männer in der Zeit des stalinistischen Terrors erschossen wurden, dessen Ziel es war, jegliches religiöse Leben in der Sowjetunion auszulöschen. Sie sind nur einige der zahllosen Christinnen und Christen aller Kirchen, die verfolgt wurden und deren Namen und Schicksal erst in jüngster Zeit bekannt geworden sind. In Weissrussland wie auch in anderen Ländern des ehemals kommunistischen Osteuropa setzen sich die Kirchen aktiv mit ihrer Vergangenheit auseinander und helfen damit der Gesellschaft, ihre Seele wieder zu entdecken.

„Erste atheistischen Republik“

In der jüngeren Vergangenheit wurde dem weissrussischen Volk zumeist das Recht auf eine eigene Geschichte abgesprochen. Religion wurde geächtet. Während der Sowjetära gipfelten die Angriffe gegen die organisierten Religionen in den dreissiger Jahren im beispiellosen Martyrium. Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs, in dem Weissrussland eines der grössten Schlachtfelder gewesen war und Millionen von Menschen ihr Leben verloren hatten, waren die Kirchen weiterer Unterdrückung ausgesetzt. Weissrussland wurde unter sowjetischer Herrschaft zur ersten atheistischen Republik erklärt. Zahlreiche Kirchen wurden gesprengt und Geistliche inhaftiert. In den 1980er Jahren gab es in der Hauptstadt Minsk nur eine Kirche mit aktivem Gemeindeleben für mehr als zwei Millionen Menschen.

Aussergewöhnliche Probleme

Heute, mehr als zehn Jahre nach Erlangung seiner Unabhängigkeit, steht Weissrussland immer noch vor schier unüberwindlichen Herausforderungen. Die Umbrüche, zu denen es in der Übergangszeit gekommen ist, haben viele in grösste Armut gestürzt. Auf dem Land sind die Menschen zur Subsistenzwirtschaft zurückgekehrt. Die nukleare Katastrophe von Tschernobyl in der benachbarten Ukraine vor achtzehn Jahren hat für Weissrussland schlimmere Folgen gehabt als für irgendein anderes Land. An einigen Orten kommen auch heute noch Kinder mit Geburtsschäden zur Welt. Ganze Landstriche werden noch auf Jahrzehnte hin verseucht und landwirtschaftlich unbrauchbar sein.

Auch der politische Übergang hat sich als schwierig erwiesen. Weissrussland ist die einzige der früheren Sowjetrepubliken, in der der rote Stern des Kommunismus und die Leninstatuen auch heute noch nicht angerührt werden. Der Europarat wirft Weissrussland schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte und der politischen Freiheiten vor. Auf internationaler Ebene ist das Land nach wie vor isoliert. Weissrussland hat eine der höchsten Inhaftierungsraten der Welt und ist das einzige Land in Europa, in dem die Todesstrafe noch vollzogen wird. Wenn die Kirchen auch Freiheiten geniessen, die in der Sowjetära unvorstellbar waren, so werden religiöse Aktivitäten doch auch weiterhin streng überwacht und alle Kirchen befinden sich auf einer schwierigen Gratwanderung zwischen Loyalität und Erneuerung.

Kirchen als Bindeglied

Überall jedoch gibt es jedoch Zeichen der Hoffnung. Die Veränderungen, die nach der Auflösung der Sowjetunion eingetreten sind, haben zu einer Befreiung des kirchlichen Lebens geführt. Dieses Wiederaufleben der Kirchen ist ökumenisch geprägt. Die Menschen wenden sich den Kirchen als einzigem Bindeglied zu ihrer Vergangenheit zu und kommen in Scharen, um sich taufen zu lassen. Konfiszierte Kirchengebäude und Klöster sind neu eröffnet worden und „Gläubige“ haben Vereinigungen gegründet, die sich dafür einsetzen, Gottesdiensthäuser neu aufzubauen und … Erinnerungen zu heilen.

Elena arbeitet für den „Runden Tisch Weissrussland“, ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), in dem orthodoxe und protestantische Kirchen gemeinsam diakonische und humanitäre Hilfe leisten. „Wir haben eine schwierige Vergangenheit, aber wir müssen uns jetzt gemeinsam für das Wohl der Kirche und der Gesellschaft einsetzen“, erklärt sie. Das Programm ermöglicht es den Kirchen, ihre Mittel zusammenzulegen und sich gemeinsam für die schwächsten Gruppen der Gesellschaft zu engagieren – Gefangene, ältere Menschen, die Opfer von Tschernobyl.

„Die Kirche muss sich an neue Formen des Dienstes und des Zeugnisses heranwagen. Die Christen können nicht in die Vergangenheit zurückkehren, aber wir können als 'Salz' in der Gesellschaft wirken, wir können in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens präsent sein, um zum Wiederaufbau, zur Genesung unseres Landes beizutragen.

Ein neues Hamburger-Restaurant in der Stadtmitte von Minsk weckt die Illusion, dass hier bereits westlicher Wohlstand herrscht. In der Nähe proben gerade die Truppen, die noch kommunistische Abzeichen tragen, für eine Militärparade zur Feier des 60. Jahrestags der „Befreiung“ Weissrusslands durch die Rote Armee. In der Ferne spiegelt sich die Sonne in der Kuppel der neu restaurierten orthodoxen Kathedrale und hebt sie aus den heruntergekommenen Gebäuden der kommunistischen Ära heraus. Weissrussland steht voller Unsicherheit an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Aber langsam findet die Gesellschaft zu ihrer eigenen Geschichte zurück, entdeckt ihre Seele wieder – und bekommt so eine erste Vorstellung von ihrem Weg in die Zukunft.

Autor: Alexander Belopopsky

Datum: 17.08.2004
Quelle: ÖRK

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