Der Antisemitismus-Vorwurf lenke vom eigentlichen Problem ab, dem Image-Problem Israels. Statt bei Kritik reflexartig von Antisemitismus zu sprechen, sei es angebracht, über die tatsächlichen Ursachen dieses Imageverlustes nachzudenken. Mit seinen Thesen stiess Psychologie-Professor Wolfgang Marx am Donnerstag bei Zuhörern, die der Einladung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft (CJA) Bern gefolgt waren, auf Widerspruch. Marx hielt zunächst grundsätzlich fest, niemand könne bestreiten, dass es in Europa Antisemitismus gebe. Er hob die Wichtigkeit hervor, diesen zu bekämpfen. Er bestritt auch in keiner Weise, dass der Staat Israel ein legitimes Recht auf eine wirksame Sicherheitspolitik habe. Die Probleme lägen vielmehr darin, wie diese beiden Aussagen – Antisemitismus und Sicherheitspolitik Israels – miteinander verknüpft werden. In einem ersten Teil zeigte Wolfgang Marx, dass die fassbare Zahl antisemitischer Übergriffe in Europa verhältnismässig klein ist. Durch gezielte Darstellung der Statistiken könne aber der Eindruck einer grossen Gefahr erzielt werden. So warnte Marx davor, von jährlich etwa 200 antisemitischen Vorfällen in Frankreich darauf zu schliessen, dass alle 56 Millionen Französinnen und Franzosen antisemitisch seien. Dieser Eindruck werde jedoch manchmal erweckt. Es gebe ein "Grossreden", durch das der Eindruck eines massiven Anwachsens judenfeindlicher Haltungen entstehe. Dabei spiele die Behauptung eine wichtige Rolle, Kritik an der Militärpolitik Israels sei oft versteckter Antisemitismus. Es handle sich dabei psychologisch gesehen um einen Abwehrmechanismus. Dem eigentlichen Problem, nämlich der gewaltbetonten Sicherheitspolitik Israels, werde dadurch ausgewichen. Diese Politik sei es, die das Imageproblem Israels verursache, und nicht, wie behauptet werde, ein wachsender Antisemitismus. Im abschliessenden Fazit schlug Wolfgang Marx vor, vermehrt über die tatsächlichen Ursachen des Imageproblems zu sprechen und Ablenkungsmanöver, in welcher Form auch immer, zu vermeiden. Dabei sei der gegenseitige Respekt auch bei unterschiedlichen Ansichten sehr wichtig. Es sei davon auszugehen, dass das Gegenüber ehrenwerte Gründe für seine Haltung haben könne. Er stelle jedoch fest, dass bei kontroversen Gesprächen oft reflexartig der Antisemitismus-Vorwurf zur Hand sei oder versucht werde, das Gegenüber als nicht ernst zu nehmend darzustellen. In der Diskussion schien sich zu bestätigen, was Wolfgang Marx eben gesagt hatte. Eine einzige Frage zu den zentralen Thesen des Referenten wurde gestellt. Die anderen Wortmeldungen zielten darauf ab, ihn als zu wenig differenziert darzustellen. Eine entsprechende, emotional vorgetragene Entgegnung erntete den frenetischen Beifall eines Teils des Publikums. Das Referat von Wolfgang Marx wirkte wie eine Voraussage: Tatsächlich kam in der Diskussion der zentrale Punkt – die Militärpolitik des Staates Israels – nicht zur Sprache. Nicht die Botschaft des Referenten stand im Mittelpunkt, sondern der Referent selbst. Wenn der Abend etwas gezeigt hat, dann dies: Es scheint immer noch sehr schwierig zu sein, über den Nahostkonflikt sachlich zu diskutieren. Mit dem Vortrag von Wolfgang Marx löste der Vorstand der CJA Bern sein Versprechen weiter ein, den Nahost-Konflikt aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Im letzten Jahr hatte bereits der israelische Botschafter Yigal Antebi die offizielle Sicht Israels dargestellt und Erik Petry historische Wurzeln des Nahost-Konflikt beleuchtet. Autor: Hans Rudolf Helbling leitet die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft (CJA) Bern; er ist reformierter Pfarrer in Bolligen BE.
Statistiken können falschen Eindruck erwecken
Ein Abwehrmechanismus
Diskussion: Referat war wie eine Voraussage
Nahost-Konflikt aus verschiedenen Blickwinkeln
Datum: 11.05.2004
Quelle: Kipa