Welcher Weg aus der Gewalt? - Israels messianische Juden und der Palästinenserkonflikt

Siedlung in der Westbank
Die Trennmauer
Nüchterner Blick auf die messianische Szene: David Boyd
Östlich von Jerusalem neu gebaut: Maale Adumim

Die israelische Gesellschaft steht unter enormer Spannung. Grundlegende Gegensätze zwischen den Strömungen im Judentum erschweren die Bewältigung des Palästinenserkonflikts und der sozialen Probleme.

Die messianischen Juden, ein Tausendstel der gesamten Bevölkerung, leben mitten in diesen Spannungen. David Boyd, Präsident der messianischen Ausbildungsstätte‚ Israel College of the Bible’, gab Livenet darüber Auskunft, wie sie sich zu den politischen Streitpunkten stellen.

Livenet: Das Leben in Israel wird von der Intifada überschattet. Gibt es unter messianischen Juden verschiedene Ansichten über den Rückzug aus den Palästinensergebieten und die Sperrmauer?
David Boyd: Die messianische Bewegung ist nicht homogen. Es ist nicht so, dass alle gleich denken und handeln. In der Szene der 5-7'000 messianischen Juden finden wir theologische Unterschiede; wir haben das ganze politische Spektrum von links bis rechts, von Liberalen und Konservativen, Charismatikern und Nicht-Charismatikern. Es gibt in der Bewegung viele verschiedene Untergruppen, die allerdings nicht organisiert sind wie Denominationen in Europa.

Zugleich ist festzuhalten, dass die messianischen Juden Wesentliches gemeinsam haben. Sie sind überzeugt, dass Jesus von Nazareth der Messias ist und in der Mitte der Weltgeschichte steht. Weiter sind sie sich einig, dass das Volk der Juden in Gottes Heilsplan für die Völker weiterhin eine bedeutende Rolle spielt und dass dem Volk das Land der Väter zugesagt ist.

Diese drei Säulen messianisch-jüdischer Identität bedeuten aber nicht, dass alle Glieder der Gemeinden übereinstimmen in den konkreten Folgerungen. Alle glauben zwar, dass dem Volk der Juden das Land verheissen wurde und auch einmal ganz gehören wird. Aber wie und wann es dazu kommen kann und soll – darüber gibt es ganz verschiedene Auffassungen.

Was die Debatten um den Rückzug aus den Gebieten betrifft: Bevor die al-Aqsa-Intifada im Herbst 2000 ausbrach, brachten manche liberale und linksstehende messianische Gläubige den Palästinensern recht viel Sympathie entgegen. Aber 110 Selbstmordanschläge in dreieinhalb Jahren haben diese Bereitschaft zunichte gemacht: Auch jene, die vor vier Jahren für Ariel Sharon gar nichts übrig hatten, stehen heute hinter Politikern wie ihm.

Die Sperranlage finden, soweit ich sehe, alle Israelis schrecklich. Aber die Frustration darüber, dass alle bisherigen Versuche zum politischen Ausgleich und zur Terrorabwehr scheiterten, und die Hoffnungslosigkeit lassen die Leute dem Bau zustimmen.

Ohne seine Armee hätte Israel die letzten Jahrzehnte nicht überlebt – mit all ihrer Schlagkraft erringt es den Frieden gleichwohl nicht. Schon in der Bibel ist zu lesen, dass militärische Stärke nicht die Rettung bringt. Was schliessen messiasgläubige Juden daraus?
Es gibt hier keine gute Antwort. Sie sagen richtig, dass Israel die Armee braucht, aber mit ihr den Frieden noch nicht hat. Wir müssen daran denken, dass immer noch viele Millionen Araber formell im Krieg mit Israel stehen. Staaten wie Syrien und Libanon haben ihre Kriegserklärungen nie zurückgenommen; da ist der Auftrag der Armee klar.

Dagegen greifen die Lebensräume der Israelis und der Palästinenser so ineinander, dass eine Armee mit dem vollen Einsatz ihrer Waffen nicht zum Erfolg kommen kann, ohne Völkermord zu verüben. Die Israelis lehnen aber solche Gewaltmassnahmen ab. In gewissen Erdteilen wird Israelis ins Gesicht gesagt, sie hätten einfach zu grosse Gewissensbisse, um den Widerstand auszulöschen und das Problem zu ‚lösen’. (Dass in arabischen Ländern Extremisten eingekerkert oder gleich umgebracht werden, scheint kaum jemand zu kümmern.) Kurz: Militärisch lässt sich das Problem nicht lösen.

Die Bibel macht klar, dass der Sieg Gott gehört und wir ihm vertrauen sollen. Wenn die Israeliten zur Zeit des Alten Testaments Gott als ihren Kriegsherrn anriefen, ging doch eine Armee ins Feld. Denken Sie an Gideon, der mit 300 Mann 15'000 Feinde besiegte. Dies geschah mit Gottes Hilfe, doch die Männer mussten etwas tun. Wenn Israelis ihre neuste Geschichte und die Siege ihrer vergleichsweise kleinen Armee betrachten, drängt sich ihnen der Eindruck auf, dass Gott dem Staat wunderbar durch die grössten Krisen geholfen hat.

Die meisten messianischen Juden sind keine Militaristen, keine Falken, aber als Staatsbürger senden sie ihre Söhne und Töchter in den 2-3jährigen Dienst in der Armee. Wir wissen von gegen 200 Personen, die derzeit voll- oder teilzeitlich in der Armee dienen.

Mit dem Schlagwort „Erez Israel“ (biblisches Land Israel) bringen die Siedler und konservative Gruppen in der Bevölkerung zum Ausdruck, dass ihnen mindestens das ganze Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan gehört und jetzt zu beanspruchen bzw. um jeden Preis zu halten ist. Auch manche Christen im Westen stehen hinter dieser Ansicht. Wie nehmen messianische Juden in diesem Streit Stellung?
Sie haben nicht eine Meinung. Alle stimmen überein, dass namentlich Judäa und Samaria zum biblischen Israel gehörten und einmal wieder gehören werden. Aber wie dies geschehen wird, bleibt offen…

Wird darüber heftig gestritten?
Für einzelne messianische Juden ist es der entscheidende Streitpunkt, wie mir scheint. Wenn Sie mit ihnen diskutieren und eine entgegengesetzte Meinung vertreten sollten, würden sie Sie meiden und ausgrenzen. Die Pastoren der messianischen Gemeinden sind jedoch viel pragmatischer. Es gibt ja verschiedene Denkansätze. Nur ganz vereinzelt wird überhaupt noch erwogen, den Grossteil der Palästinenser zu deportieren. Die meisten überlegen eine Ein- oder Zweistaatenlösung. Vor der Intifada neigten viele der Vorstellung zu, man könne die Palästinenser zu Bürgern des israelischen Staats machen.

Bei den Arabern gewinnt diese Idee interessanterweise Anhänger – die westlichen Medien nehmen das nicht wahr. Ich war kürzlich in einer Palästinenserfamilie zu Besuch, die wenige hundert Meter von der Sicherheitsmauer entfernt wohnt. Die Frau liess mich zum Fenster hinaus sehen und sagte dann: „Reissen Sie sie ab; wir wollen alle israelische Bürger sein. Wir wollen nicht unter Arafats Fuchtel leben und haben genug davon, dass seine Schurken unser Leben bedrohen.“ Solche Aussagen sind von immer mehr Palästinensern zu hören. Aber die Polarisierung und den Hass hebt dies nicht auf.

So befürworten die meisten messianischen Juden die Aufgabe der Siedlungen?
So würde ich es nicht sagen. Der Rückzug ist ein Lösungsvorschlag. Der andere ist, die Gebiete zu annektieren und den da lebenden Palästinensern das israelische Bürgerrecht zu geben. Die beiden Ansätze unterscheiden sich völlig. Ich kann nicht sagen, welche Anteile der messianischen Juden dem einen oder anderen zuneigen.

Tatsache ist, dass in vielen Siedlungen messianische Juden leben. Es wird diskutiert, ob die Grenzlinie von 1967 weniger künstlich ist als jene von 1948. Seither wurde viel gebaut: Ist beispielsweise die Hebräische Universität in Jerusalem als Siedlung zu sehen? Oder gehört sie zum jüdischen Jerusalem, schon vor der Staatsgründung?

Der Ring von Vorstädten um Jerusalem soll auch bei einem Rückzug bei Israel bleiben – das ist doch die vorherrschende Meinung in der jüdischen Bevölkerung?
Ja, Vorstädte wie Maale Adumim, das neue Quartier Har Homa und andere stehen nicht zur Disposition. Im Westen denkt man, wenn von Bautätigkeit in den Gebieten die Rede ist, meistens an isolierte kleine Siedlungen im Niemandsland. Tatsächlich wird gleich vor den Toren Jerusalem weitaus am meisten gebaut. Die meisten Israeli glauben, dass bei einem eventuellen Rückzug aus dem Gaza-Streifen und der Westbank, wenn die Siedler entschädigt werden müssen, diese Zonen um Jerusalem einbezogen werden. So könnten die Siedler auch sagen, dass sie in den Gebieten geblieben sind.

Fortsetzung folgt.

Übersicht Christen in Israel:
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/369/15788/
Artikel über das Israel College of the Bible:
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/368/13003/
Infos über die messianischen Juden in Israel bei:
www.amzi.org

Bilder: amzi, Reinach BL

Datum: 29.03.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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