Saudische Zeitung: „Der Kult um Selbstmord-Anschläge muss aufhören“

Zerstörtes Haus in Riad
Vipernnest
Colin Powell, US-Aussenminister
Rettung von Verletzten

Saudi-Arabien steht unter Schock. Gleichzeitig ausgeführte Bombenanschläge von islamistischen Terroristen auf drei ummauerte Luxus-Quartiere in der Hauptstadt Riad am Montag kosteten sieben Amerikanern und weiteren Ausländern, aber auch mehreren Einheimischen das Leben. Am Mittwochnachmittag sprachen die Behörden von mindestens 25 Todesopfern. Über 200 Personen wurden verletzt. Über 200 Personen wurden verletzt. Das Wüstenkönigreich, das vom Fürstengeschlecht der Saud völlig autoritär regiert wird und grundlegende Menschenrechte verneint, ist erschüttert.

Die saudische englischsprachige Zeitung ‚Arab News‘ suchte in einem Leitartikel nach Worten für „den Ekel und die Empörung über die Selbstmord-Bombenanschläge in Riad“. Offenbar werden schwerwiegende Folgen nicht zuletzt für die Wirtschaft des Landes befürchtet: „Sind Ausländer, die hier arbeiten, eine Besatzungsarmee, die abgeschlachtet und terrorisiert werden muss, damit sie abzieht?“

Westliche Freiheiten innerhalb der Mauern, strikter Islam ausserhalb

Fast gleichzeitig drangen die Attentäter am Montagabend nach elf Uhr Ortszeit in drei Ausländerquartiere der saudischen Hauptstadt ein, indem sie die Wächter an den Pforten niederschossen, die Schranken hoben und Lastwagen mit grossen Ladungen hochexplosiven Sprengstoffs einfahren liessen. Bei den Anschlägen wurden nach bisherigen Angaben 7 Amerikaner, 7 saudische Bürger, 2 Filipinos, 1 Libanese, 1 Schweizer und 2 jordanische Kleinkinder getötet und über 200 Personen verletzt; in 9 verkohlten Leichen vermuten die Behörden Attentäter.

Weil der Islam in Saudi-Arabien strikt durchgesetzt wird, mit untragbaren Einschränkungen namentlich für westliche Frauen, leben Ausländer in den Städten in gesonderten, mit Mauern umgebenen Luxus-Wohnvierteln. Was die Fachkräfte aus westlichen, asiatischen und arabischen Ländern, welchen Saudi-Arabien zu Hunderttausenden Arbeit gibt, in diesen abgeschirmten Siedlungen treiben, muss den Einheimischen verborgen bleiben, in einem Land, wo Frauen bis heute nicht Auto fahren dürfen. Laut der NZZ demonstrieren nun die radikalen Islamisten mit ihren Anschlägen, „dass die Einfriedung keine Sicherheit für die zivilen Ausländer garantiert“.

‚Verhöhnung des Islam‘

1996 hatte ein spektakulärer Anschlag auf ein US-Truppenlager in der saudischen Provinzstadt Khobar 19 Tote und über 400 Verletzte gefordert. Nun hat der islamistische Terror die Hauptstadt selbst getroffen. Die Anschläge seien von schierer Bosheit geprägt, schreibt die Zeitung ‚Arab News‘ in dem Leitartikel unter dem Titel „Der Feind im Innern“, ohne die religiösen Aspekte zu unterschlagen. Das Menschenleben – „das Leben von Muslimen, von Saudis, von Westlern, von allen“ – sei heilig, eine Gabe Gottes, heisst es in dem Artikel, der am Tag nach dem Anschlag verfasst wurde.

Die Täter, erbarmungslos und hasserfüllt, seien „die neuen Faschisten“. Sie hätten eine unsinnig verzerrte (demented) Sicht des Islam und hätten „der Menschheit den Krieg erklärt, um ein gänzlich unislamisches Ziel anzupeilen: die Trennung und Isolierung der muslimischen Welt vom Rest der Menschheit“. Die Terroristen töteten wahllos die, die sich ihnen in den Weg stellten, und verstiegen sich gleichwohl zur Behauptung, Allahs Willen zu erfüllen, heisst es im Leitartikel. So werde der Islam, „eine offene, einschliessende Religion“, verhöhnt.

‚Wir haben hier ein Nest von Vipern‘

Die Zeitung hält zugleich fest, dass die Saudis ihre Köpfe nicht mehr in den Sand stecken können. „Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass wir hier ein Terroristen-Problem haben“. Die Suche nach saudischen Al-Qaeda-Kämpfern (deren Verhaftung letzte Woche misslang) müsse vor allem jene Einheimischen zum Umdenken veranlassen, die sich bisher „beständig weigerten anzuerkennen, dass einzelne Saudis oder Muslime irgendetwas Schändliches tun können“.

Diese Leute glaubten auch immer noch das Märchen, dass die Anschläge des 11. September auf das Konto der Israelis oder der CIA gingen, heisst es im Leitartikel weiter. „Zu lange haben wir die Wahrheit ignoriert. Wir wollten nicht eingestehen, dass Saudis am 11. September zu den Tätern gehörten. Wir können aber nicht länger ignorieren, dass wir ein Nest von Vipern hier haben, und hoffen, dass sie dadurch von selbst verschwinden. Sie werden nicht verschwinden. Sie sind unser Problem, und wir alle sind jetzt ihre Zielscheiben.“

‚Wer Selbstmord-Anschläge in Israel und Russland fröhlich unterstützt...‘

Die Zeitung (deren Internetdienst schon der Sprache wegen von den wenigsten Einheimischen gelesen werden dürfte) nimmt auch jene ins Visier, die „das Denken der Bombenattentäter vergifteten“. Das Umfeld, das solchen Terrorismus hervorgebracht habe, müsse ändern. „Die Selbstmord-Attentäter seien angestachelt worden „durch das Gift anti-westlichen Denkens, dass durch die Venen des Mittleren Ostens geflossen ist“. Das saudische Königreich sei ebenso davon betroffen wie andere Staaten.

Der Leitartikler der Arab News fährt fort: „Wer immer am 11. September Schadenfreude empfand, wer Selbstmord-Anschläge in Israel und Russland fröhlich unterstützt, wer Nicht-Muslime im Vergleich zu Muslimen als weniger menschlich und daher irgendwie entbehrlich ansieht, der trägt einen Teil der Verantwortung für die Bomben in Riad. Wir können nicht sagen, dass Selbstmord-Anschläge in Israel und Russland akzeptabel sind, nicht aber in Saudi-Arabien. Der Kult um Selbstmord-Anschläge muss aufhören.“ Ebenso müsse der überheblichen Hasspropaganda im arabischen Raum gegen den Westen, die der Unwissenheit und dem Hass Vorschub geleistet habe, ein Ende gemacht werden.

In der Nacht vor Powells Besuch

Laut amerikanischen Regierungskreisen wurden die zeitlich koordinierten Anschläge höchstwahrscheinlich von Al-Qaeda-Terroristen verübt. Der NZZ-Korrespondent sieht durch die Anschläge Präsident Bushs Behauptung entkräftet, mit dem militärischen Sieg im Irak sei ein wichtiger Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus errungen. Die Anschläge wurden offensichtlich auf die Nacht vor dem Besuch von Aussenminister Colin Powell in Riad terminiert. Powell war laut der New York Times bei einer Besichtigung erschüttert von der Verwüstung.

In einer Botschaft an seine saudischen Untertanen schwor Kronprinz Abdullah, die Angreifer zu ergreifen und zu vernichten. „Wenn diese Mörder glauben, dass ihre blutigen Verbrechen auch nur ein Haar am Leib dieser Nation und an ihrer Einheit bewegen können, täuschen sie sich.“ Die Erschütterung der Sicherheit und Stabilität Saudi-Arabiens sei ein unsinniger Traum der Terroristen, sagte der Kronprinz, der die Regierungsgeschäfte im ölreichsten Land der Erde führt.

Cheney: Den Terror eindämmen ist nicht genug

Präsident Bush verurteilte die Anschläge als „abscheuliche Taten von Killern, deren einziger Glaube Hass ist“. Sie würden verfolgt und von den USA zur Rechenschaft gezogen. Vizepräsident Dick Cheney gab sich kompromisslos. Die USA hätten keine andere Wahl, als Terroristen aggressiv zu verfolgen, sagte er in einer Rede. Kein Vertrag, keine Friedensvereinbarung, keine Eindämmungs- und Abschreckungspolitik sei der Bedrohung angemessen. Sie müsse letztlich vernichtet werden.

In Washington wird mit der Möglichkeit weiterer Anschläge in der Golfregion gerechnet. Seit dem 11. September 2001 habe Al-Qaeda sich in Saudi-Arabien auf Fundraising und die Rekrutierung weiterer Aktivisten beschränkt, sagte ein Beamter. Nun habe die Organisation „etwas tun müssen, um mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen“.

Verhaftung von Qaeda-Kämpfern fehlgeschlagen

Die USA mussten aufgrund abgehörter Gespräche mit Anschlägen rechnen – dies zu einer Zeit, da viele Ausländer, froh über das Ende des Irak-Krieges, nach Saudi-Arabien zurückkehrten, weil sie ihre Sicherheit wieder als gewährleistet ansahen. Geheimdienst-Informationen führten am 1. Mai zu einer Warnung des Staatsdepartements in Washington an US-Bürger, von Reisen nach Saudi-Arabien abzusehen. Daraufhin wurden die Sicherheitsvorkehren an den Eingängen zu den Ausländerquartieren verstärkt.

Laut der New York Times verhinderten die Geheimdienste letztes Jahr einen Anschlag im Golfstaat Bahrain, waren aber alarmiert, als Visitenkarten von US-Diplomaten der Botschaft in Riad und Karten von US-Stützpunkten im Land auf einer arabischen Webseite auftauchten.

Letzte Woche hoben saudische Sicherheitskräfte das Waffenlager einer Qaeda-Zelle in Riad aus; sie fanden grosse Mengen hochexplosiven Sprengstoffs, Schusswaffen und auch panzerbrechende Granaten. Die gesuchten Militanten, 17 Saudis und zwei weitere Araber, konnten offenbar entkommen. Eine saudische Gruppe, der Verbindungen zu bin Ladens Netzwerk nachgesagt werden, rief nach dem missglückten Raid zur Vergeltungsaktionen auf. Einer der 19 Gesuchten namens Ali al-Ghamdi wird der Qaeda zugerechnet.

Nüchternheit in Washington

Washington rief die Botschaftsangestellten, die für den Betrieb entbehrlich sind, und ihre Angehörigen aus Saudi-Arabien zurück. Der US-Botschafter Riad forderte seine Landsleute auf, in ihren Häusern zu bleiben. Die amerikanische Schule in der saudischen Hauptstadt bleibt eine Woche geschlossen.

Die USA hätten nie geglaubt, dass sie al-Qaeda bereits die Fähigkeit zu terroristischen Schlägen genommen hätten, sagte ein Beamter in Washington. „Wir wissen, dass sie viele Leute haben, die weiter solche Operationen durchführen wollen. Und auch wenn es ihnen schwerer fällt, können sie es immer noch tun, wie diese Anschläge bewiesen haben.“

Kommentar


Der bemerkenswerte Leitartikel der ‚Arab News‘ tippt wichtige Hintergründe an, schürft aber nicht tief genug. Wie der Korrespondent der New York Times festgehalten hat, fördert der saudische Staat selbst in seinem Bildungssystem einen religiös begründeten „sozialen Fanatismus“: Misstrauen und Hass gegen Fremde wird geschürt, wie eine Analyse von Schulbüchern zeigt.

In der Spannung zwischen islamischer Welt und dem Westen, die in Saudi-Arabien mit seiner mittelalterlich-autoritären Staatsform und der Nutzung modernster Technologie besonders spürbar ist, kann dieser Fanatismus ins Politische kippen, indem der Westen verteufelt wird.

Saudi-Arabien verzeichnet eine zunehmende soziale Unrast, weil bei verbreiteter Arbeitsunlust (Asiaten machen die Dreckarbeit) aufgrund der hohen Geburtenrate die Arbeitslosigkeit stark gestiegen ist. Der ‚political fanaticism ‘ hat dazu geführt, dass Osama bin Laden (dessen Vater als Bauunternehmer des Hauses Saud ein Vermögen machte) bei vielen Saudis populär war und es auch nach dem 11. September blieb.

Die Herrschaftsideologie des Fürstenhauses Saud (König Fahd hat sich den Titel des ‚Schutzherrn der Heiligen Stätten‘ von Mekka und Medina gegeben) stützt sich religiös auf die wahhabitische Ideologie, eine Ausprägung des Islam, welche laut dem britischen Experten Vincenzo Oliveti „einigen der grundlegendsten Elemente des Islam widerspricht“.

Datum: 15.05.2003
Quelle: Livenet.ch

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