Gläubige Insassen in einem Gefängnis in Argentinien (Bild: Evangélico Digital)
«Kirche im Knast» ist ein weltweites Phänomen. Auch in Argentiniens Hochsicherheitsgefängnissen werden ganze Abteilungen von evangelischen Insassen geleitet. Die Regierung fördert solche Einrichtungen seit 20 Jahren.
Walter Gálvez, argentinischer Staatssekretär
für den Strafvollzug und selbst Pfingstler, schätzt, dass zum Beispiel in der
argentinischen Provinz Santa Fe 40 Prozent der rund 6'900 Insassen in evangelikalen
Abteilungen leben.
Vom
Auftragskiller zum Seelsorger
Rosario ist eine Stadt mit
rund 1,3 Millionen Einwohnern, die von Armut und Kriminalität geprägt ist. Die
Gefängnisse sind voll mit Bandenmitgliedern, die versuchen, Territorium und
Drogenmärkte zu kontrollieren. Achtzig Prozent aller Verbrechen in Rosario
werden von jungen Auftragskillern verübt, die ihre Dienste den Drogenbanden zur
Verfügung stellen. Ihre Anführer sitzen im Gefängnis und üben von dort
die Kontrolle über die kriminellen Geschäfte aus.
Jorge Anguilante, ein Insasse
des Piñero-Gefängnisses in Rosario, kehrt jedes Wochenende nach Hause zurück, um
in einer kleinen evangelischen Gemeinde zu predigen, die er in einer Garage in
Argentiniens gewalttätigster Stadt gegründet hat. Auf dem Weg nach draussen grüsst
der ehemalige Kriminelle, der zum Pastor wurde, die Wärter mit einem einzigen
Wort: «Segen».
Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte dieses Mannes: Anguilante wurde 2014 wegen
Mordes an einem 24-jährigen Mann zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt. Heute versichert
er, dass sein gewalttätiges Leben hinter ihm liegt: «Das Wort Gottes hat mich
zu einem neuen Menschen gemacht».
Die Geschichte eines
verurteilten Mörders, der hinter Gittern zum Glauben an Christus kommt, ist in
den Kerkern von Santa Fe keine Seltenheit. Viele von ihnen begannen als
Teenager mit dem Drogenhandel und gerieten in eine Spirale der Gewalt, die
einige ins Grab und andere in überfüllte Gefängnisse brachte. Diese sind zwischen zwei
Kräften aufgeteilt: den Evangelikalen und den Drogenhändlern.
Eine
Oase im Gefängnis
In den letzten 20 Jahren haben
die argentinischen Gefängnisbehörden auf die eine oder andere Weise die
Einrichtung von Abteilungen gefördert, die von evangelischen Insassen geleitet
werden, und ihnen manchmal besondere Privilegien gewährt, wie etwa mehr Zeit im
Freien.
Die «evangelischen» Abteilungen
sind denen im übrigen Gefängnis sehr ähnlich: sauber und in hellblau oder grün
gestrichen. Sie verfügen über Küchen, Fernseher und Radiogeräte, die hier für
Gebetsgottesdienste genutzt werden. Aber sie sind sicherer und ruhiger als die
normalen Abteilungen.
Ein Verstoss gegen die Regeln, wie Kämpfen, Rauchen, Alkohol oder Drogen kann dazu führen, dass ein
Häftling wieder in das «normale» Gefängnis zurückgeschickt wird.
Zugang
wird kontrolliert
Der Zugang wird sowohl von den
Gefängnisbeamten als auch von den Leitern der Abteilungen kontrolliert, die als
Seelsorger tätig sind und sich vor den Versuchen der Banden hüten, in die
Gefängnisse einzudringen, indem sie ständig kontrollieren, wer Zutritt hat. «Es
kommt oft vor, dass Insassen in den evangelischen Zellenblock rüberwechseln
wollen, um ihn zu übernehmen. Wir müssen ständig aufpassen, wer hier reinkommt»
sagt Eric Gallardo, einer der Leiter des Pinero-Gefängnisses.
«Wir bringen Frieden in die
Gefängnisse. In den evangelischen Abteilungen hat es nie Unruhen gegeben. Und
das ist besser für die Behörden», sagt David Sensini, Pastor einer der grössten
Pfingstgemeinden in Rosario.
Evangelischer
Aufbruch
In Argentinien ist die
römisch-katholische Kirche nach wie vor die wichtigste Religion. Eine vom
Nationalen Rat für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET)
veröffentlichte Umfrage zeigt jedoch, dass der Anteil der argentinischen
Katholiken zwischen 2008 und 2019 von 76,5 Prozent auf 62,9 Prozent gesunken ist.
Im gleichen Zeitraum ist der
Anteil der Evangelikalen von 9 Prozent auf 15,3 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Laut der
CONICET-Forscherin Verónica Giménez hat das Wachstum der Evangelikalen in
Argentinien, wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern, in allen
Bereichen der Gesellschaft stattgefunden, besonders aber unter den «Schwächsten,
einschliesslich der Gefängnisinsassen».
Die Veränderung, die der
Glaube bringt, soll nicht nur in den «evangelischen Abteilungen» der
Gefängnisse wirksam werden. Im September 2020 trat in Argentinien ein Gesetz in
Kraft, das Vertretern der Religionen freien Zutritt zu allen Gefängnissen
gewährt, um die Insassen geistlich zu betreuen. Das Gesetz war vom christlichen
Senator der Provinz Mendoza, Hector Bonarrico, initiiert worden und wird so
begründet: «Religion wirkt nicht nur als Sühne für Schuld, sondern sie macht
auch den Freiheitsentzug erträglich und bewirkt eine Veränderung. Der religiöse
Diskurs ermöglicht neue Formen des Seins, Denkens und Lebens im Gefängnis».