Bilanz der Fussball-WM:

Der Sport gewinnt, die Menschen verlieren

Nach der Fussball-WM in Brasilien blicken wir auf spannende Spiele mit teilweise überraschenden Ergebnissen zurück. Gleichzeitig wächst die Kritik an Gastgeber Brasilien. Milliardengewinne und Milliardenausgaben seien auf Kosten der Ärmsten im Land gegangen. Ein Kommentar von Hauke Burgarth.
Kunst-Proteste in Brasilien gegen die Fussball-WM
Hauke Burgarth

Vorab: Ja, ich habe viele WM-Spiele angesehen. Ja, ich war begeistert von den grösstenteils fairen Spielen auf hohem sportlichen Niveau. Ja, ich habe als Deutscher im Endspiel mit unserer Mannschaft gezittert und gejubelt. Aber trotzdem möchte ich meine Augen nicht vor der Realität hinter den Spielen verschliessen.

Sportlich – ein Gewinn

Von sportlicher Seite her gesehen war diese WM ein echter Gewinn. Selten haben sich so viele Newcomer gegen scheinbare Favoriten durchgesetzt. Und es gab immer wieder Fussball zu sehen, der nicht nur ergebnisorientiert oder langweilig war – sehr viele Spiele waren wunderschön, dramatisch und spannend.

Politisch – eine Katastrophe

Von politischer Seite ziehen dagegen viele eine negative Bilanz. Zum Beispiel der protestantische Pastor und Menschenrechtsaktivist Antonio Costa. In einem Interview erklärte er dem Schweizer Fernsehen: «Die Bilanz ist negativ. Die FIFA und einige Geschäftsleute haben Milliardengewinne gemacht auf Kosten der Bevölkerung. Die brasilianische Regierung hat – entgegen ihrem Versprechen – Milliarden an Steuergeldern in den Anlass investiert. Geld, das fehlt, um die minimalen Bedürfnisse der Bevölkerung zum Beispiel nach anständigen Schulen oder Spitälern zu befriedigen. Die arme Bevölkerung hatte nicht einmal die Möglichkeit, die Spiele im Stadion zu sehen. Sie hat den Organisatoren einzig als pittoreske Kulisse gedient.»

Die Pfeifkonzerte, die in den Stadien jedes Mal erklangen, wenn die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff gezeigt wurde, unterstreichen deutlich, dass die Bevölkerung die Rekordkosten von circa 11 Milliarden Euro für die Fussball-WM nicht mitträgt. Fussball ja, WM ja, aber nicht um diesen Preis. Viele rechnen bei den Präsidentschaftswahlen in drei Monaten mit einer Quittung für dieses Finanzgebaren, das völlig an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigeht. Ob dies allerdings sparsamere Olympische Spiele 2016 in Rio bedeutet, darf bezweifelt werden.

Menschlich – unerträglich

Vor der WM kam es in Brasilien zu zahlreichen Säuberungs- und Umsiedlungsaktionen, und manche Favelas wurden einfach hinter meterhohen Zäunen versteckt. Trotzdem war es während der Spiele relativ ruhig. Dieses Ausbleiben weiterer Proteste nahm FIFA-Präsident Sepp Blatter zum Anlass, um zu fragen: «Wo ist sie denn geblieben, die soziale Unzufriedenheit?» Mit Blick auf die katastrophale Lage vieler Brasilianer eine Äusserung, die mehr als ungeschickt ist – sie ist menschenverachtend.

Ausnahme? – Leider nein

Leider ist diese Gigantomanie, die mit Menschenrechtsverletzungen oder sozialen Ungerechtigkeiten erkauft wird, kein Einzelfall. Scheinbar gehen unsere sportlichen Grossereignisse mit diesem Ungleichgewicht in Serie: Die letzten Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi haben mit über 50 Milliarden Euro mehr gekostet alle 21 Winterspiele vorher zusammengenommen – und boten ebenfalls abschreckende Beispiele für ein menschenverachtendes Umfeld. Die Ausrichter der nächsten Fussball-WM's in Russland und Katar scheinen hier auch keine positiven Gegenakzente zu setzen. Und die FIFA zieht sich auf einen rein sportlichen Standpunkt zurück, verlangt den Bau völlig überdimensionierter Stadien für Nationen wie Südafrika oder jetzt Brasilien und achtet in erster Linie auf ihren Profit.

Zukünftig – ein Umdenken ist fällig

Wenn sportliche Grossveranstaltungen wie die Fussball-WM auch in Zukunft die Massen begeistern sollen, dann sind weitere Neuerungen wie die diesmal eingeführte Torlinientechnik sinnvoll. Aber gleichzeitig darf die menschliche und soziale Komponente nicht ausgeblendet werden. Dazu sind Stimmen wie die von Antonio Costa nötig – und das Zuhören und Reagieren von uns allen.

Datum: 16.07.2014
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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