Haiti

Strandkinder – oder eine Lektion zum Geben

Vor dem schrecklichen Erdbeben 2010 in Haiti wusste Andrea Wegener nur grob, wo das Land liegt. Inzwischen war sie bereits mehrfach dort und engagiert sich beim Aufbau eines Waisenhauses in Ça-Ira in der Nähe von Port-au-Prince. Und sie erzählt in ihrem Buch «Ein Quäntchen Trost» erfrischend und ehrlich von ihren Erlebnissen in der Karibik. Ein Buchauszug.
Andrea Wegener erzählt vom Aufbau eines Kinderheims im haitianischen Ça-Ira.
Andrea Wegener
Die Erlebnisse von Andrea Wegener in Haiti sind gerade bei Francke erschienen.

An diesem Nachmittag haben wir frei. Wir können eine Pause gut gebrauchen. Marcos aus Spanien, der ein gutes Jahr in Ça-Ira lebt und manches für die Teams koordiniert, kennt einen Badestrand nur ein Dreiviertelstündchen entfernt, und so packen wir schnell unsere Sachen, trommeln die Jugendlichen zusammen und quetschen uns ins Auto. Ich muss an diesen Wetten-dass-Sketch vor vielen Jahren denken: Wie viele Menschen passen in eine Telefonzelle? Auch für unser Tap Tap scheint zu gelten: Einer passt immer noch rein. Unterwegs halten wir bei einem kleinen Laden, und zusammen mit Marcos kaufe ich Brot und Cracker, einige Fischkonserven, Schmierkäse und jede Menge Kaltgetränke ein. Die meisten von uns Blans (= Weissen) wären ja mit Wasser zufrieden, aber Cola und Sprite dürfen bei den Haitianern nicht fehlen. «Lass uns gleich für die nächsten Tage mit einkaufen», schlage ich vor. «Wir werden die nächsten zwei Tage unterwegs sein und schon aus Zeitgründen bestimmt nicht immer essen gehen können.» Dann fahren wir weiter zu einem abgegrenzten Strand, wo wir ein paar Dollar Eintritt bezahlen, das Auto bewacht abstellen können und – hoffentlich – unsere Ruhe haben.

«Gebt uns zu essen!»

Wir sind für den abgegrenzten Strand mehr als dankbar, packen unter ein paar herrlich schattigen Bäumen unser Picknick aus und freuen uns auf den freien Nachmittag. Einige spielen Fussball, andere bringen sich zusammen Ukulele-Spielen bei oder erkunden die Tücken des Kreolischen. Ich habe mich auf einem Handtuch ausgestreckt und höre ihnen mit geschlossenen Augen schläfrig zu. Wie schön kann es in Haiti doch sein, wenn man mal seine Ruhe hat, denke ich. Doch meine kleine private Idylle dauert nur wenige Minuten. Sobald die ersten von uns anfangen, die mitgebrachten Sachen zu essen, sind wir von Kindern umringt. Sie sind von einem Nachbarstrand durchs Meer herübergewatet – so viel zum Thema «abgegrenzter Strand» – und haben mit einigen unserer Mädels im Wasser gespielt.

«Gebt uns zu essen», rufen sie fordernd und bauen sich um unsere Picknickkisten herum auf. «Was sollen wir machen?», fragt Theresa, «wir können sie doch nicht einfach wegschicken?» Ich merke, wie der Ärger über diese Kinder in mir hochsteigt. Ich finde es richtig frech, wie sie schnorren. Hat ihnen denn keiner so viel Anstand beigebracht, dass sie Bitte sagen? Sie sehen nicht unterernährt aus, nur ein bisschen schmuddelig, und ich bin sicher, dass sie es überleben werden, wenn sie sich nicht an unserem Picknick beteiligen. Klar, denke ich zynisch, wir Blans haben natürlich alles Geld der Welt, und wo wir hinkommen, fällt immer was für alle ab. Wenn wir diesen Kindern jetzt etwas geben, wird sich das herumsprechen und der Nachmittag ist gelaufen. Und ich möchte dieser Bettelei nicht weiter Vorschub leisten. Immer wieder wird Hilfsorganisationen vorgeworfen, die Einheimischen abhängig zu machen, sodass sie von Almosen leben, anstatt für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann muss man ja mal anfangen, diese Muster zu durchbrechen. Ich treffe also eine Blitzentscheidung. «Nein», gestikuliere ich in Richtung der Kinder, «ihr könnt nicht mitessen. Das sind unsere Sachen.»

Ruhe – und doch keine Ruhe

Sie drücken sich trotzdem weiter um uns herum und betteln, bis ich entnervt den Strandverantwortlichen suche. «Die Kinder stören uns», sage ich, «können Sie bitte dafür sorgen, dass sie uns in Ruhe lassen.» Die Kinder werden also von unseren Kisten verscheucht und gehen zum Meer zurück. Sie spielen dort unbekümmert weiter, auch mit uns, wenn wir zum Wasser kommen. Wir können nicht abschätzen, inwieweit sie wirklich sauer sind.

Nach dem Abendessen rufe ich die Gruppe zusammen. Es tut gut, ein bisschen Zeit zum Austausch zu haben, und ich merke, dass die Geschichte mit den Kindern in uns allen gärt. Elisée, ein Haitianer, der schliesslich schon den ganzen Tag mit uns verbracht hat, gesellt sich ganz selbstverständlich zu uns, als wir zum Einstieg ein paar Lieder singen. Oh nein, schiesst es mir durch den Kopf. Ich habe Elisée wirklich gern, aber gerade jetzt bräuchten wir ein bisschen Abstand, um diese Sache zu besprechen. Wenn er dabei ist, können wir nicht so offen sprechen, wie wir es «unter uns Blans» tun würden. Aber eigentlich sollten wir uns über diese Chance freuen, das gemeinsam zu besprechen. Bei welchem Projekt hat man schon mal Gleichaltrige aus beiden Kulturen zusammen und kann miteinander und nicht übereinander reden?

Julia ist ziemlich verstört und bringt als Erste zum Ausdruck, was den anderen vermutlich auch durch den Kopf geht: «Ich fand es schwierig, dass wir da am Strand gegessen und den Kindern nichts abgegeben haben!» Ich erkläre, warum ich das so entschieden habe. «Aber ich weiss selbst nicht, ob ich beim nächsten Mal wieder so handeln würde», gebe ich zu.

Die haitianische Perspektive zum Geben

«Wie siehst du das denn», spreche ich schliesslich Elisée an. «Was geht dir durch den Kopf, wenn die Kinder uns um Essen bitten? Und hätten wir ihnen deiner Meinung nach etwas geben sollen?» Ich rechne damit, dass er nun zugibt, dass es würdelos ist, wie sie von den Blans immer alles Mögliche fordern und sich dann hinter unserem Rücken noch darüber lustig machen, wie leicht man aus unserem dauernd schlechten Gewissen, mehr zu haben als der Rest der Welt, Profit schlagen kann. Irgendetwas in der Art erwarte ich – und bin dann über seine Antwort erstaunt. «Wenn wir irgendwohin gehen, nehmen wir immer mehr mit, als wir für uns selbst brauchen, damit wir anderen etwas abgeben können», erklärt er. «Es geht einfach nicht, dass man anderen nichts abgibt.» Mit Haitianern und Blans hat das für ihn offenbar gar nichts zu tun.

«Aber die Sachen sind auch noch für die nächsten Tage gedacht, und wenn wir sie jetzt schon verbrauchen – was haben wir dann für morgen?», frage ich. Elisée zuckt mit den Schultern: «Am nächsten Tag hat dann eben jemand anderes was für uns.» Und er fügt etwas leiser hinzu: «Oder eben nicht.» Ich sehe die Schwierigkeiten bei dieser Haltung, aber für heute lasse ich Elisées Worte im Raum stehen: «Ich verstehe nicht, warum ihr so wenig teilt, wo ihr so viel habt.»

Zum Buch

Titel: Ein Quäntchen Trost
Untertitel: Wie ich mein Herz für Haiti entdeckte
Autor: Andrea Wegener
ISBN/EAN: 9783868274653
Verlag: Francke
Erschienen: 06.2014
Seiten/Umfang: 176 S.
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Datum: 17.07.2014
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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