Ein Bilderbuch für traumatisierte Kinder

«Haïtianer sind Überlebenskünstler und haben das Lachen nicht verloren»

Nach dem schweren Erdbeben sind noch immer viele Kinder in Haïti traumatisiert. Das Kinderbuch «Carcyala und das Erdbeben» soll helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Es  wurde von Sipó Haïti, ein Hilfswerk aus der Schweiz, herausgegeben. Das Buch-Projekt ist für den StopArmut-Projektpreis nominiert. Präsident, Christoph Baumann stellt es in unserem Interview vor.
Kinder
Fanclup in Haiti

Livenet: Herr Baumann, können Sie kurz ihr Projekt beschreiben?
Christoph Baumann: «Die Abenteuer von Carcyala – Carcyala und das Erdbeben» ist ein Buch für Kinder von 9 bis 14 Jahren (aber auch für Erwachsene) über Katastrophen, geschrieben von einem haïtianischen Autor, der sich schon seit Jahren mit der Ausbildung von Kindern befasst. Die Geschichte nimmt uns in das Alltagsleben einer typischen haïtianischen Familie mit, die täglich ums Überleben kämpfen muss und die aus religiösen und wirtschaftlichen Gründen in die Hauptstadt umgezogen ist. Am Geburtstag der Tochter Carcyala ereignet sich das Erdbeben. Das Kind wird verschüttet und verliert das Bewusstsein. Dadurch wird es in eine Traumwelt versetzt, in der es verschiedene Naturereignisse kennenlernt. Der Autor liess sich für diese Traum-Geschichte von Psychologen beraten. Carcyala erwacht unter den Trümmern wieder, wird gerettet, sucht und findet ihre Mutter. Glücklich fallen sie sich in die Arme. Aber dann stellt die Mutter die Frage: «Carcyala, wo ist Dein Vater?» Diese Frage wird nicht beantwortet.

Das Buch soll den Kindern in Haïti helfen, Naturereignisse besser zu verstehen und Traumata zu verarbeiten. Es ist ein Buch, das – nicht nur in Haïti – sensibilisieren und zum Dialog über die verschiedensten Themen zwischen Jung und Alt anregen soll. Der Autor gibt bewusst keine Antworten, sondern beschreibt eine Situation, die uns zeigt, dass wir nicht in einer Traumwelt leben, sondern dass wir uns mit der Realität auseinander setzen müssen, auch dann, wenn dies schmerzlich ist. Es will auch zeigen, dass es immer eine Hoffnung gibt.

Wie kam es dazu?
Unser haïtianischer Projektbetreuer, der lange Zeit an der Alliance Française in Haïti mit Jugendlichen gearbeitet und sich immer wieder schriftstellerisch betätigt hat, entwickelte die Idee für dieses Buch. Das Ziel war und ist es, das Kinderbuch in Haïti herauszubringen. Er fragte mich einmal, ob ein solches Buch für unsere Arbeit nützlich sein könnte. Wenn ja, dann könne ich damit machen, was ich wolle. Ich begeisterte mich für diese Idee, weil ich realisierte, dass ein solches Buch auch bei uns zum Denken anregen und nützlich sein kann. Er bereinigte darauf das Manuskript und liess die Illustrationen von einem haïtianischen Künstler entwickeln, der in der Umsetzung auch neue Techniken anwendet. Dass wir es auch auf Deutsch realisieren konnten, haben wir einem grosszügigen Sponsor zu verdanken.

Was war für Sie persönlich ausschlaggebend, dass Sie sich für das Wohl der Armen engagieren?
Ich denke, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, dass wir uns als Christen um die Nächsten kümmern, egal, ob in der Nähe oder in der Ferne. Gott wird uns zeigen, wo unsser Nächster ist und wo wir eine Aufgabe übernehmen können. Ausschlaggebend für mein Engagement war eine haïtianische Mitarbeiterin, die während Jahren in unserer Agentur gearbeitet hat und durch die wir eine Beziehung zu Haïti erhalten haben. Ich sehe die Arbeit als einen Dienst und schliesse mich den Worten von Mutter Teresa an, die einmal sagte: «Es kommt nicht darauf an, wie viel wir tun, sondern wie viel Liebe, wie viel Aufrichtigkeit, wie viel Glaube wir in unser Tun legen. Die bedeutendste Wissenschaft auf der Welt – im Himmel und auf Erden – ist die Liebe.»

Inwiefern werden die diesjährigen Anliegen von StopArmut 2015 in ihrem Projekt berücksichtigt?
Das Buch zeigt zum Beispiel die Problematik von Leuten, die in die Grossstadt umziehen und sich eine bessere Zukunft erhoffen, weil sie an ihrem ursprünglichen Ort zu wenig verdienen und Mühe haben, Nahrung zu kaufen und den Kindern das Schulgeld zu bezahlen. Hinzu kommen unvorhergesehene Ereignisse wie Naturkatastrophen oder auch gesundheitliche Probleme, die eine Lage fast aussichtslos machen. Ein Umzug in eine grössere Stadt ist meistens nicht die Lösung der Probleme. Der nächste Schritt wäre dann die Flucht in ein anderes Land. Was ist nötig, dass solche Familien in ihrem Land zu einem Erwerb kommen und dass ein würdiges Leben und ein Auskommen möglich ist? Wo und wie können wir dazu beitragen, dass die Bevölkerung so unterstützt wird, dass eine solche nachhaltige und erfolgreiche Entwicklung in ihrem eigenen Land möglich ist? Wie verhalten wir uns hier in der Schweiz Leuten gegenüber mit Migrationshintergrund? Das Buch soll als Basis für eine weitere Vertiefung verschiedener Themen (Naturereignisse, Armut, Gesundheit, Berufsausbildung, Wirtschaft und Entwicklungshilfe) dienen, die je nach Situation und Land unterschiedlich sind.

Welches sind besondere Höhepunkte in ihrer Arbeit?
Es gibt viele Höhepunkte, kleine und grosse. Das kann zum Beispiel ein SMS eines Kindes aus Haïti sein, das mir per Handy voll Stolz rasch den Durchschnitt seiner Noten im Zeugnis mitteilt. Höhepunkte sind oft auch Begebenheiten oder Gespräche, die uns zeigen, dass unsere Freunde in Haïti dankbar sind. Oder wenn uns Haitianer berichten, dass sie erfolgreich in eine selbstständige Tätigkeit gestartet sind. Dann freuen wir uns mit und sind stolz auf die Haïtianer (und natürlich auch ein wenig auf uns).

Welches die Schwierigkeiten?
Es gibt viele Schwierigkeiten in einem Land, das auch das «pays perdu» genannt wird. Es fehlt an vielem. Wichtig ist, dass wir von den Ideen und Möglichkeiten ausgehen, die im Land vorhanden sind und dass wir uns dann als «Schuhlöffel» verstehen, um ein Projekt umzusetzen. Hilfreich dabei ist, dass Haïtianer Überlebenskünstler sind und das Lachen nicht verloren haben. Es braucht Einfühlungsvermögen, Verständnis, Geduld, Durchhaltewillen, Respekt und den Glauben an eine Hoffnung.

Sind Sie in Ihrer Arbeit mit strukturellen Problemen konfrontiert?
Die strukturellen Probleme ergeben sich aus der Lage Haïtis. Strukturen aufzubauen in einem Land, das kaum Strukturen hat, ist schwierig. Manchmal hat diese Situation aber auch Vorteile, denn Dinge können oft einfacher umgesetzt werden. Wir richten uns nach der Situation, versuchen aber mit den Leuten zusammen strukturiert und geordnet zu arbeiten.

Wie kann sich jemand in der Schweiz für Ihr Projekt engagieren?
Neben Spendern suchen wir auch Personen, die sich speziell engagieren wollen. Jemand kann sein Know-how einbringen und sich konkret an einem Projekt beteiligen und es begleiten. Für eine Person aus dem Gastrobereich hätten wir jetzt zum Beispiel eine Möglichkeit, sich an einem Projekt für ein Begegnungszentrum mit Restaurant zu beteiligen (aktiv oder passiv). Wir suchen aber auch Spezialisten aus verschiedenen Bereichen, die uns mit ihrem Fachwissen unterstützen.

Was sind Ihre Zukunftswünsche für Ihr Projekt?
Wir möchten mit den Leuten, die wir kennen, den angefangenen Weg weitergehen und Projekte aufnehmen, die sich aus ihrem Umfeld ergeben. Dazu gehört vor allem die Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien sowie die berufliche Ausbildung. Ebenso Support beim Aufbau einer selbständigen Tätigkeit. Hinzu kommen Projekte wie Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Solarenergie und Rechauds für Briketts aus Biomasse. Wir möchten fördern, unterstützen und begleiten

Webseite:
Sipò Haïti
StopArmut

Datum: 13.07.2012
Autor: Cedric Zangger
Quelle: StopArmut 2015

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