Interview

„Jesus im Leben der Menschen mehr zutrauen“

Selbstkritik ist nicht die erste Stärke der Christen. Gewieft wie wenige verunsichert der in Kalifornien lebende Autor Erwin R. McManus. Im zweiten Teil des Livenet-Gesprächs skizziert er Evangelisation in der Postmoderne, stellt Fragen über Antworten, schildert Leiterförderung in seiner Mosaic-Bewegung – und wie er als Christ Weltbürger ist.
Dynamischer Referent: Erwin McManus fordert Christen rund um den Globus heraus.
Erwin McManus.

Livenet: Erwin McManus, Sie haben von Mosaic erzählt und sich dabei von den ‚Evangelicals‘ abgesetzt. Wie definieren Sie sich denn?
Erwin McManus:
Ich bin ein Nachfolger von Jesus. Ganz einfach. Mosaic ist eine Gemeinschaft von Leuten, die Jesus nachfolgen. Wir versuchen, im Glauben zu leben, zu lieben und eine Stimme der Hoffnung zu sein. Die Evangelicals repräsentieren mich nicht.

Kann man sagen, dass Sie auf postmoderne Weise den christlichen Auftrag wahrnehmen wollen?
Ich weiss nicht, ob es ein postmoderner Zugang ist. Zur Postmoderne gehört bekanntlich, dass man nicht mehr weiss, wer man ist, aber weiss, was man nicht mehr ist… Das Wort selbst deutet an, dass wir noch von der Moderne zehren.

Ich versuche einfach herauszufinden, wie ich ehrlich sein kann. Wenn ich sage: Ich glaube an Jesus, dann habe ich mich dem schmerzhaften Prozess zu stellen, wirklich auf das zu hören, was er sagt, und hinzusehen, wer er war. Wenn ich sage: Ich glaube an die Bibel, dann muss ich mich aller Dinge meiner Kultur entledigen, die mich einlullen, und alle ihre Ansprüche am Massstab der Schrift prüfen. Ich versuche mein eigenes Leben und meine Werte fortwährend ins Licht der Bibel zu halten und mich zu fragen: Ist das wirklich das Leben, welches ich nach Gottes Willen lieben soll? Das ist für mich ein ziemlich schmerzhafter Prozess. Denn wir lieben die Sicherheit, welche unsere Überzeugungen uns geben.

…und auch die Sicherheit, welche eine festgefügte Gemeinschaft, die Kirche, bietet.
Ja. Absolut. Mir gibt weniger zu denken, wenn ein Christ in sozialpolitischen Fragen liberal Stellung bezieht oder sich konservativ positioniert. Echt Mühe habe ich hingegen mit jenen, die das Ganze nicht durchdacht haben und einfach schlucken, was jemand ihnen als die richtige Perspektive vorsetzt. Ich kann jemand respektieren, der eine andere Meinung hat. Wenn aber jemand die Bibel als Grundlage nimmt, müssten wir uns doch sinnvoll darüber unterhalten können.

Es scheint ein Problem der westlichen Evangelikalen zu sein, dass wir uns fürchten, Fragen zu stellen, da die Antworten bereits gegeben sind. Es muss erlaubt sein, die Fragen neu aufzusuchen. Wenn das nicht der Fall ist, sind Sie auf dem Weg zu intellektueller Blutarmut und geistlicher Lähmung. Ich bin überzeugt, Jesus fordert uns das ab, dass wir uns ständig fragen: Ist es das Leben, das wir leben sollten? Bringen wir seinen Charakter in den gegenwärtigen Umständen zum Ausdruck, setzen wir seine Botschaft um?

Wie geschieht dies in der Gemeinschaft, die Sie leiten, in Mosaic? Wie greifen Sie die Fragen immer wieder neu auf? Und: Überfordern Sie die Gemeinschaft nicht, wenn Sie dies verlangen?
Ich denke, es ist das Einzige, was Sie einer Gemeinde abfordern können. Es ist doch schrecklich, wenn sie in Rechtgläubigkeit erstarrt. Das National Public Radio, das wegen seiner humanistisch-liberalen Ausrichtung von vielen Christen verabscheut wird, hat Mosaic kürzlich in einer Sendung positiv dargestellt. Sie räumten ein, dass man mir gut zuhören könne, da ich nicht moralisiere und den Leuten nicht vorschriebe, was sie zu tun hätten. Nun ja, da tue ich nicht. Ich will den Leuten auf die Sprünge helfen, dass sie selbst denken lernen.

Das habe ich auch mit meinen eigenen Kindern (nun 19 und 15) versucht. Irgendwann sind sie erwachsen und müssen selbst entscheiden, was sie wollen. Wenn Sie sie in den Stand setzen, ihre Werte selbst zu befragen und gesunde Entscheide zu treffen, dann können Sie ihnen vertrauen.

Wie wirken Sie in der Gemeinschaft darauf hin?
Ich glaube, dass Jesus Christus Gott ist, dass er gekreuzigt, begraben und auferweckt wurde. Ich glaube das wirklich. Wenn ich das glaube, dass Gott wirklich in mir lebt und wir Gemeinschaft haben, warum trauen wir dieser Präsenz von Jesus im Leben der Menschen nicht mehr zu? Er wird sie besser in ihren alltäglichen Entscheiden leiten als irgendeine andere Autorität. Wir fahren immer noch, so mein Eindruck, auf der Schiene von Mose – als wären die Zehn Gebote nicht genug für uns. Wir brauchen unser Leben dafür, diese Gebote zu analysieren, um allen zu sagen, wie sie heute leben sollen. Viel eher sollten wir aber den Leuten helfen, indem wir ihnen darlegen, was sie beschäftigen soll.

John Maxwell ist in den USA weitherum als evangelikaler Lehrer respektiert. Er und ich nehmen die Dienste derselben Agentur in Anspruch; wir kennen einander seit langem. Einmal liess er mir per mail ausrichten, ich sollte weniger Fragen stellen und stattdessen mehr Antworten geben. Ich schrieb zurück, er solle doch die Fragen beantworten; mein Job sei es, die Fragen zu stellen. Ich meine: auch darum zu ringen, die richtigen Fragen zu stellen.

Was macht es so mühsam, Fragen zu stellen? Nun, wir exponieren uns und bringen zum Ausdruck, dass wir noch dazuzulernen haben. Wir gestehen ein, dass wir noch wachsen müssen – und dass wir uns irren könnten. Vermutlich vermeiden aus diesem Grund US-Pastoren und christliche Leiter Fragen. Man erwartet von ihnen, dass sie auftreten, als hätten sie alle Antworten. Wer fragt, macht sich verletzlich. Daher finde ich, wir müssen auf unserer Glaubensreise das Fragenstellen zu einem der höchsten Werte erheben.

Jesus hat in Gesprächen nicht selten Fragen und Gegenfragen gestellt. Seine Nachfolger fragte er einmal: Für wen haltet ihr mich?
…eine recht massive Frage! (lacht) Aber was tun wir? Statt Menschen zu fragen und ihnen zu helfen, Jesus zu entdecken, sagen wir ihnen, wer er ist. Wer selbst entdecken kann, wird davon viel tiefer verändert und verwandelt, als wenn es ihm eingetrichtert wird. Anordnen und befehlen sollte das letzte Mittel von Leitung sein.

Sie legen in der Leiterausbildung bei Mosaic Wert auf Selbsteinschätzung. Wie bewahren Sie Ihre Leiter vor Selbstbezogenheit?
Je arroganter ein Mensch ist, desto weniger schätzt er sich ein. Sind Sie demütig, schätzen Sie sich angemessen ein. Demut ist ja nicht, dass ich mir nichts zutraue, keine Talente von Gott an mir wahrnehme und mich bemitleide. Demut macht, dass ich mich annehme als den, den Gott geschaffen hat. Ich bin eben nicht grösser als die 1.80, aber auch nicht 1.70. Demut heisst, dass ich mich angemessen wahrnehme und anerkenne: Was Gott in mich hineingelegt hat, ist da, damit ich anderen diene und ihn damit ehre.

Wir arbeiten hart daran, unseren Leitern in diesem Sinn ein gesundes Bewusstsein ihrer selbst zu vermitteln. Es ist viel schwerer, arrogant zu sein, wenn du weisst, was du nicht so gut kannst. Tatsächlich ist es einfacher, in Demut zu leben, wenn du weisst, dass du andere Leute brauchst. Ich habe ein Team von Leuten, die ständig aufräumen, wo ich Unordnung hinterlasse. Sie übersehen meine Schwächen und bügeln meine Versäumnisse aus. Und ich habe genug Liebe und Achtung für sie, um über ihre Schwächen hinwegzusehen und für sie hinzustehen. Das ist doch das Schöne an wirklicher Gemeinschaft. Sie können es nicht tun ohne Demut. Arrogante Leute sehen sich nicht richtig, sind ihren Schwächen gegenüber blind.

Dann soll eine örtliche Gemeinde nicht von einer Person geleitet werden?
Nein. Nach unseren Erfahrungen ist Leitung sehr komplex. Wenn Sie Mosaic besuchen, bin ich unzweifelhaft der erste Leiter. Aber 99 Prozent von dem, was wir tun, wird nicht von mir geleitet. Ich leite nur das eine Prozent, das uns hilft, als Gemeinschaft in die Tiefe zu wachsen und vorwärts zu gehen. Ich tue etwas Wichtiges, aber nicht das Allerwichtigste. Leute sagen: Was wenn du stirbst? – und ich antworte: Wir alle sterben. Ich bin nicht unersetzlich, aber wesentlich. Wenn ich nicht täte, was ich tue, würde ich der Kirche. dem Reich Gottes und den Menschen etwas vorenthalten.

Man kann sich bei Mosaic tatsächlich fragen, was denn Erwin treibt. Mein Job als Leiter ist wohl, dafür zu sorgen, dass nicht einer dem anderen Gelegenheiten zu leiten stiehlt. Das liebe ich. Ich bin seit 15 Jahren dabei – und arbeite heute weniger als vor fünf Jahren. Ich habe heute mehr Optionen. Bei unserem letzten Event habe ich vor dem Gottesdienst Stühle gestapelt, weil ich sonst nichts zu tun hatte. Also, dachte ich, staple ich eben Stühle…

Wo liegen Ihre Wurzeln?
Ich stamme aus El Salvador und kam nach Miami, lebte dann an der Ostküste und seit 15 Jahren in Los Angeles. Vermutlich denke ich nicht in traditionell westlichen Bahnen. Den Luxus, im Rahmen einer ethnisch einheitlichen Kultur zu denken, habe ich nie genossen. Die Antworten, die ich zu geben versuche, auch theologische, müssen nicht nur für die USA passen, sondern auch für Indonesien, Afrika und Indien.

Wie stark ist die Bewegung, zu der Sie sich zählen, in den USA?
Spontan kommt mir ein Bild in den Sinn. Wenn Dinosaurier und Menschen gleichzeitig lebten, sähe an einem Montag der Dinosaurier mächtiger aus als der Mensch. Aber das Bild würde täuschen – wenn er nämlich der letzte seiner Art ist. Menschen haben es geschafft zu überleben. Die politischen Bewegungen der US-Evangelicals kommen massig daher, aber Sie können sie als eiszeitliche Dinosaurier ansehen. Daneben gibt es quer durch Amerika sehr authentische, vor Leben vibrierende Gemeinschaften, die zum Ausdruck bringen, wer Jesus ist. Diese Bewegung mag nicht grösser sein – aber jedenfalls sprüht sie vor Leben und hat Zukunft.

In den USA gibt es die älteren Kirchen, die Evangelikalen, Pfingstler, Charismatiker… Sie heben sich von ihnen ab, doch Ihre Bewegung nährt sich aus vielen Quellen.
Ich will keinesfalls urteilen oder arrogant auftreten. Wir stehen nicht darüber, stehen nicht jenseits dieser herkömmlichen Gestalten von Kirche. Doch die Schubladen sind für mich irrelevant. Ich komme aus El Salvador, aus Mittelamerika. Aber ich bin nicht Angehöriger einer Minderheit – ich bin vor allem Mensch. Mir geht es darum, was uns verbindet. Ich sehe mich nicht als Amerikaner, sondern als Bürger der weltumspannenden Gemeinschaft.

Wer sich durch Abgrenzung definiert und immer exklusiver auftritt, entfremdet sich mehr und mehr Menschen. Ich habe die Bewegung, die von Jesus ausging, vor Augen. Meine wesentliche Berufung ist, Menschen zu dienen, wer sie auch seien. Ich will ihnen helfen, mit dem Gott, der sie liebt, in Verbindung zu treten, und ihnen übersetzen, wer Jesus ist. Weil ich nicht mit der politisch tätigen evangelikalen Rechten identifiziert werden wollte, habe ich öfter Konflikte erlebt.

Wie denn?
Manche meinen einfach deshalb Recht zu haben, weil sie der Mehrheit angehören. Als ich ein Nachfolger von Jesus wurde, war Jimmy Carter Präsident. So dachte ich erst, alle Christen seien liberale Demokraten. Zwei Jahre später, unter Reagan, konnte man den Eindruck gewinnen, alle Christen seien konservative Republikaner. Wer hatte das Memo gesandt, so dass sie ins andere Lager wechselten? (lacht) Ich habe mich immer gegen diese Etikettierungen gewandt und behauptet, dass mein christlicher Glaube verschiedene politische Positionen rechtfertigen kann.

Als mein Sohn die High School besuchte, fragte er mich: Dad, bin ich ein Konservativer oder ein Liberaler? Wir nahmen ein Blatt und zogen in der Mitte eine Linie. Dann stellte ich ihm Fragen. Bei einer gab er eine Antwort, die ich als liberal einstufte, bei der nächsten positionierte er sich konservativ, auf der anderen Seite der Linie. Ich stellte sicher, dass am Ende beide Seiten gleich viele Punkte hatten. Denn ich kannte ihn.

Sie haben ihn verwirrt.
Er fragte mich: Dad, was soll ich ihnen sagen? Ich antwortete: Sag ihnen, dass du infolge der Berufung, Jesus nachzufolgen, ein Freidenker sein musst.

Freidenker sind die gefährlichsten von allen…
… exakt! (lacht)

Erster Teil des Livenet-Gesprächs mit Erwin R. McManus: Miteinander unterwegs sein – bis Christus sich zeigt

Datum: 02.01.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service