Mit Solidaritätszellen

Die Kirche als Schlüssel für die Armutsbekämpfung

Der Kontinent Afrika und der Begriff Armut sind heute schon fast Synonyme. Können die Menschen auf diesem gebeutelten Kontinent wirtschaftlich je auf einen grünen Zweig kommen? Peter Seeberger schildert ein Beispiel, wie der Ausstieg aus der Armutsfalle gelingen könnte.
«Cent Mille Fleurs» will die Armut in christlichen Gemeinden in Afrika bekämpfen. (Bild: Peter Seeberger)
Peter Seeberger mit seiner Solidaritätszelle

Ja, diesen grünen Zweig gibt es! Das behaupten zumindest einige meiner ehemaligen afrikanischen Theologiestudenten und ich als ihr ehemaliger Dozent. Uns verbindet eine tiefe Freundschaft und der Glaube, dass die christlichen Gemeinden in Afrika eine Schlüsselrolle in der Armutsbekämpfung spielen sollten und können. Dieser Gedanke war leitgebend für das Gründen der Bewegung «Cent Mille Fleurs». Ihr Ziel ist es, die Armut in den christlichen Gemeinden zu bekämpfen. Grundlage dafür ist ein Netzwerk von Solidaritätszellen, die von Paten und Patinnen aus Europa unterstützt werden.

Was Cent Mille Fleurs will

Die noch junge Bewegung setzt sich aus kirchlichen Gruppierungen in den vier westafrikanischen Ländern Burkina Faso, Benin, Elfenbeinküste und Togo zusammen. Die Länderverantwortlichen stehen alle in einer leitenden Funktion in ihren Kirchen. Sie verstehen das Evangelium als integrale Mission, welche die Verkündigung, die gegenseitige Fürsorge, den Dienst an der Dorf- oder Quartiergemeinschaft, aber auch den Einsatz für gerechte Gesellschaftsstrukturen gleichzeitig im Blick hat. Um als Kirche eine entscheidende Rolle in der Armutsbekämpfung zu spielen, muss zuerst die Armut unter den Gemeindegliedern überwunden werden. Dabei geht es nicht darum, dass erst alle wohlhabend sein müssen, um anderen glaubwürdig helfen zu können, sondern um die Überwindung der extremen Armut in den Kirchen.

Laut einer Umfrage unter den Mitgliedergemeinden der Bewegung leben etwa 70 Prozent der Gemeindeglieder unter der Armutsgrenze, müssen also mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag auskommen. Diese Tatsache steht in einem krassen Widerspruch zum Evangelium, das Leben im Überfluss verspricht. Die Bewegung Cent Mille Fleurs will aber nicht nur das Einkommen steigern, sondern gleichzeitig auch ein Leben in Würde ermöglichen.

Was macht ein Leben in Würde aus? 

Die Gemeinde-Mitglieder definierten dazu nach einem intensiven Austausch acht Bereiche:

1. Eine ausreichende, gesunde und ausgewogene Ernährung

2. Eine würdige und sichere Unterkunft

3. Zugang zu medizinischer Versorgung

4. Eine Grundausbildung

5. Ein Grundeinkommen

6. Zugang zu einer Kirchgemeinde

7. Ein Kommunikationsmittel

8. Ein Fortbewegungsmittel

Schritte zur Überwindung der Armut in den Gemeinden

In einer ersten Phase wurden die Mitglieder der Kirchgemeinden in Solidaritätszellen von sechs bis zehn Personen aufgeteilt. Diese treffen sich regelmässig, teilen ihre Nöte miteinander und führen Aktivitäten zur Mittelbeschaffung durch. Wenn immer möglich werden sie dabei von einem Paten oder einer Patin aus Europa unterstützt. Nicht nur die finanzielle Direkthilfe von maximal CHF 300.– ist für die jeweilige Zelle eine grosse Ermutigung, sondern auch der Austausch mit Christen aus einem anderen Kulturkreis. 

Dieses Gespräch ist für beide Seiten herausfordernd, aber auch bereichernd. Ziel dieser Form von Partnerschaft ist ein Austausch auf Augenhöhe, ein Einblick in die Lebenswelt des andern. Dank moderner Kommunikationstechniken wie Whatsapp können auch kurze Videos oder Bilder ausgetauscht werden – und diese sagen bekanntlich mehr als tausend Worte. 

So schrieb mir meine Zelle im Benin, sie habe zwei Quadratmeter Land gepachtet, um Mais anzubauen. Mit dem Ertrag sollte einem jungen Mitglied die Studiengebühren bezahlt werden. Ich war erstaunt, dass eine so kleine Fläche einen substanziellen Ertrag abwerfen kann. Erst als ich das Video dazu sah, verstand ich, dass sie zwei Hektaren gemeint hatten!

Wirkungen der Bewegung

Zellenleiterinnen und -leiter berichten von erstaunlichen Entwicklungen. Viele Gemeindeglieder haben verstanden, dass Entwicklung nicht nur eine Frage externer Unterstützung ist, sondern auch in ihren eigenen Händen liegt. Die Zellen legen Geld zusammen und entwickeln Kleinprojekte vom Gartenbau über Kleintierzucht bis zur Vergabe von Microkrediten für den Aufbau eines Kleingewerbes. Zusammen wird gesät und geerntet. Diese Aktivitäten sind nicht neu, der Erlös dient aber nicht nur einer Einzelperson, sondern einer ganzen Gruppe.

Pastoren berichten von einem neuen Gemeinschaftsgefühl in den Zellgruppen. Ich hörte von einer armen Witwe, die abends oft in ihrer dunklen Hütte sass, weil sie sich keinen Stromanschluss leisten konnte. Die Gruppe legte Geld zusammen und brachte Licht in ihre Behausung. Die Frau habe während den Treffen nie ein Wort gesagt. Nach dieser Liebestat habe sie ihre Sprache aber wieder gefunden und bringe sich nun mit ihren Ideen ein.

Ganze Gemeinden haben im Zuge dieser Bewegung eine Transformation erlebt. Sie erbringen Hilfeleistungen in der Nachbarschaft. Eine Gemeinde in Burkina Faso füllte eine überschwemmte Quartierstrasse mit Material auf und machte sie wieder passierbar, ganz nach dem Motto von Franz von Assisi: «Predige das Evangelium, wenn nötig brauche Worte.» Das Evangelium soll nicht nur gehört, sondern auch erfahren werden.

Ein Blick in die Zukunft

Cent Mille Fleurs heisst übersetzt Hunderttausend Blumen! Hunderttausend Menschen sollen durch diese Bewegung bis ins Jahr 2030 den Weg aus der Armut finden. Nebst Solidaritätszellen sollen auch Bildungsangebote, Infrastrukturprojekte und Kooperativen entstehen.

Diese Vision ist begeisternd, gleichzeitig aber auch übermächtig. Sie ist nur realisierbar, wenn noch viele Hände mit anpacken. Zurzeit warten viele Solidaritätszellen in Westafrika auf eine Patin oder einen Paten. Unser Team in der Schweiz besteht aus drei ehrenamtlich tätigen Leuten – zu wenig, um das Netzwerk auszubauen. Mut schöpfen wir aus einem Wort des Propheten Nehemia: «Der Gott des Himmels wird es uns gelingen lassen…!» Gleichzeitig hoffen wir auf menschliche Unterstützung.

Zum Autor

Peter Seeberger war zwölf Jahre in Westafrika als Bibellehrer und Entwicklungshelfer tätig. In der Schweiz war er Pastor und Leiter der Kampagne «StopArmut». Er ist Mitbegründer von «Cent Mille Fleurs», einer kirchlichen Bewegung in Afrika für ein ganzheitliches Christsein. Beruflich arbeitet er heute als Geschäftsführer eines Kinderhilfswerks in Äthiopien.

Dieser Artikel erschien zuerst beim Forum Integriertes Christsein.

Zur Webseite:
Cent Mille Fleurs

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Datum: 28.08.2021
Autor: Peter Seeberger
Quelle: Forum Integriertes Christsein

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