Sein «Fehler» war, mit Albinismus zur Welt zu kommen
«Weil ich bei meiner Geburt anders aussah, hat mich
meine Familie verstossen. In Ruanda wird Albinismus als Fluch betrachtet. Die
ersten Jahre lebte ich mit den Tieren im Stall», berichtet Rémy Paul Ayinshuti. Dass er heute nicht mehr als Fluch, sondern als Segen gesehen wird, war Gottes Werk.
Rémy Paul Ayinshuti aus Rwanda (Bild: Compassion)
Vom 23. August bis am 6. September 2020 war Rémy Paul Ayinshuti zu Gast in der
Schweiz. In Kirchen, Gemeinden, christlichen Schulen und an privaten
Veranstaltungen teilte er seine bewegende Lebensgeschichte an über 20 Anlässen
mit insgesamt mehreren Hundert Personen.
«Ich habe noch
nie so viel positives Feedback erhalten nach einem Event, den ich organisiert
habe», berichtet Jack Dylan, der zusammen mit DJ FreeG ins Studio 21 in
Ostermundigen eingeladen hatte. «Die Leute waren tief bewegt von der krassen
Geschichte und wurden sehr ermutigt und herausgefordert.»
Albinismus gilt als Fluch
Rémys Geschichte
handelt von Hoffnung, Heilung und Versöhnung, aber sie beginnt düster. Als Rémys
Vater hörte, dass sein sechstes Kind mit Albinismus geboren worden war, liess
er der Mutter ausrichten, sie brauche das Baby nicht nach Hause zu bringen. So
wurde Rémy am Tag seiner Geburt im Spital zurückgelassen. Damit habe er noch
Glück gehabt, denn normalerweise würden Babys mit Albinismus sofort umgebracht,
um «den Fluch über der Nachbarschaft zu brechen». Oft werden Menschen mit
Albinismus in Ostafrika auch verstümmelt und ihre Gliedmassen den Hexendoktoren
verkauft, die sie für okkulte Praktiken verwenden. Davor blieb Rémy verschont.
Aber auch seine Adoptivfamilie hatte nicht viel für ihren Schützling übrig. Er
wurde in der Scheune bei den Kühen untergebracht. Manchmal gab es etwas zu
essen für ihn, manchmal nicht. Hin und wieder wurde er gewaschen, oft aber
nicht. Seine neuen Eltern versteckten ihn vor den Nachbarn, erinnerten ihn
immer wieder an seine Andersartigkeit und gaben ihm die Schuld daran. «In den
ersten vier Jahren meines Lebens war ich ständig emotionalen und körperlichen
Misshandlungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Ich fühlte mich abgelehnt,
allein, gehasst. Ich war wirklich verzweifelt», sagt Rémy.
Annäherung an Compassion
Ein Jahr nach
dem Völkermord begann die lokale Kirche, mit Compassion zusammenzuarbeiten und
eröffnete ein Kinderzentrum. Rémy schloss sich in seinen schmutzigen Kleidern
und mit blutigen Füssen der Kindergruppe an, die auf dem Weg zur Kirche war. «Als wir ankamen, sagte man mir, dass die Liste der Kinder, die aufgenommen
werden konnten, bereits fertiggestellt war. Ich fing an, laut zu weinen, und
rief: 'Ich auch! Ich auch!'» Die Erwachsenen wollten Rémy wegschicken, weil er
nicht auf der Liste stand. Doch Rémy weinte immer lauter. Als der
Compassion-Verantwortliche merkte, was los war, kam er dazu. «Er nahm mich in
die Arme und wischte mir die Tränen ab. Er fragte nach meinem Namen. Dann sagte
er: 'Weisst du was: Gott liebt dich, und ich habe dich auch lieb.' Dann rief er
das Team zusammen und sagte ihnen: 'Wer soll denn überhaupt ein Compassion-Kind
werden, wenn nicht Rémy!?'»
Ein besseres Leben für Rémy
So kam Rémy ins
Patenschaftsprogramm von Compassion. Die Mitarbeitenden besuchten ihn zuhause,
veranlassten, dass er vom Stall zur Familie ins Haus umziehen konnte, klärten
die Familie über Albinismus auf und auch über die besonderen Bedürfnisse, die Rémy
durch diese Behinderung hatte. Sie päppelten den mangelernährten Jungen mit
Spezialnahrung auf und versorgten seine geschundene Haut. Sie sangen Lieder mit
ihm und dachten sich Spässe aus, um ihn zum Lachen zu bringen.
Nach einem Jahr,
in dem sie sich um Rémy gekümmert und an der Stärkung seines Selbstwertgefühls
gearbeitet hatten, fanden die Mitarbeitenden des Kinderzentrums, Rémy sei nun
bereit, zur Schule zu gehen. Aber es war nicht einfach. Die Lehrpersonen
verachteten ihn, und keines der anderen Kinder wollte neben ihm sitzen oder mit
ihm spielen. Zum Glück gab es aber nebst seinen Betreuerinnen und Freunden im
Kinderzentrum noch eine weitere Quelle der Ermutigung. Eine Familie aus den USA
waren Rémys Paten geworden. «In ihnen habe ich eine neue Familie bekommen. Sie
schrieben mir sehr regelmässig, und ihre Briefe begannen sie mit den Worten:
'Lieber Sohn.' Sie ermutigten mich, mich in der Schule anzustrengen und auf das
Lernen zu konzentrieren. Wir sind uns zwar nie persönlich begegnet, aber
emotional waren wir uns sehr nah», erzählte Rémy.
Rémy studiert
Uns so geschah
das Erstaunliche: Rémy war durch seine ganze Schulzeit hindurch immer einer der
besten fünf Schüler seiner grossen Klasse. Nach der Sekundarschule konnte er
mit einem nationalen Stipendium ein Studium an der Universität beginnen.
Aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen, aber auch wegen der traumatisierenden
Geschichte seines Landes, entschied er sich, klinische Psychologie zu studieren.
Heute gehört
Rémy zum Team von Compassion Ruanda. Er gründete ausserdem OIPPA, eine
Organisation zur Förderung und Integration von Menschen mit Albinismus in die
Gesellschaft. Er ist verlobt und plant, dieses Jahr zu heiraten.
Ein Segen
Lange Zeit
konnte er sich nicht vorstellen, wieder den Kontakt zu seiner Geburtsfamilie zu
suchen. Durch einen Prozess der inneren Heilung wurde das aber möglich. Sein
Vater war im Völkermord von 1994 ums Leben gekommen. Heute gilt Rémy deshalb
als Oberhaupt und Ernährer der Familie.
«Am Anfang
meines Lebens wurde ich als Fluch betrachtet. Aber heute bin ich ein Segen für
meine Familie, meine Gemeinde, meine ganze Nachbarschaft. So wie Gott mit
meinem Leben einen guten Plan hatte, so hat er auch für dein Leben etwas Gutes
im Sinn.»