Marie-Christine Nibagwire widmet ihr Leben der Versöhnung
Die Menschen in Ruanda
mussten 1994 den grössten Genozid der jüngeren Geschichte erleben. Eine Million
Menschen wurden ermordet, zwei
Millionen konnten in benachbarte Länder fliehen. Gezielte Todeslisten, Massaker
und Gewalt brachten unbeschreibliches Leid über praktisch jede Familie.
Trotzdem ist auch in Ruanda Vergebung möglich. Das lehrt uns Marie-Christine
Nibagwire, die ihr Leben nach der Flucht aus ihrer Heimat der Versöhnung
gewidmet hat.
Marie-Christine Nibagwire
Marie-Christine Nibagwire ist heute ordinierte Pastorin
der anglikanischen Kirche und leitet die von ihr 2001 gegründete NGO «Safe Refuge
Rwanda». Sie lebt in London und bereist die Welt, um von Kriegen Betroffene zu
beraten. Dazu arbeitet Marie-Christine Nibagwire mit Kirchen, Flüchtlingsorganisationen, globalen Netzwerken, Universitäten und Schulen
zusammen. Ihre Botschaft: Liebe bringt Heilung, Heilung bringt Vergebung,
Vergebung bringt Frieden.
Flucht
mit der Tochter nach Kenia
Ohne Gepäck
und ohne Dokumente musste sie 1994 überstürzt aus ihrer Heimat Ruanda fliehen: Die
Massaker hatten begonnen, viele ihrer Familienmitglieder waren umgekommen. Das
für sie Wichtigste konnte sie aber retten: ihre zweijährige Tochter. Auf ihrer Flucht
durch das zerrissene Land, durch den Kongo und Tansania bis Kenia überlebten
die beiden Gewalt und fanden schliesslich Hilfe beim Internationalen Roten
Kreuz.
Marie-Christine
Nibagwire wurde in der Folge aufgrund ihrer beruflichen Vorkenntnisse beim
Roten Kreuz angestellt, obgleich sie keine Papiere vorweisen konnte. Sie arbeitete
dort vier Jahre und half mit, Familien zusammenzuführen. Alles, was sie gesucht
habe, sagt sie heute, sei Frieden gewesen. Sie habe aber immer gewusst, dass
ihre Sehnsucht nach Frieden in Afrika nicht gestillt werden könne. Weil
Verwandte in Kanada lebten, machte sie sich zusammen mit ihrer Tochter auf den
Weg dorthin. Sie liess sich für viel Geld Dokumente ausstellen, die sich bei
der Zwischenlandung in London Heathrow als gefälscht erwiesen. So musste sie in
London bleiben, wo sie 1998 Asyl erhielt.
Arbeit unter
Flüchtlingen
Arbeit fand
sie dann beim Zugunternehmen Eurostar, das seine Züge zwischen Paris, Brüssel
und London verkehren lässt – zwischen Orten also, in denen viele afrikanische
Flüchtlinge stranden. Schliesslich gab sie diese Arbeit auf und gründete «Safe
Refuge Rwanda». Seither widmet sie sich den Flüchtlingen in afrikanischen und
europäischen Lagern.
Insbesondere
Frauen und alleinerziehende Eltern mit psychischen Problemen und Traumata will
Marie-Christine Nibagwire dabei unterstützen, mit ihrem Leben wieder zurechtzukommen.
Viele Frauen wurden vergewaltigt, manche haben ihre Ehemänner und Kinder
verloren. Eine Frau aus Ruanda wird aber nicht über das, was ihr angetan wurde,
sprechen. Es ist nicht Teil ihrer Kultur, solche Gespräche zu führen. Ihr helfen
allein menschlicher Kontakt und Mitgefühl. Auf der Flucht könne niemand das
Geschehene verarbeiten. Erst in der vermeintlichen Sicherheit komme die Zeit
der Auseinandersetzung mit den eigenen Traumata, mit im sexuellen Missbrauch
gezeugten Kindern und auch mit dem Kulturschock.
Was ist
Versöhnung?
Laut
Marie-Christine Nibagwire spielen Glaubensgemeinschaften eine wichtige Rolle
bei der Integration von Flüchtlingen in die Gesellschaft. Sie hat beobachtet,
dass christliche Gemeinschaften Flüchtlinge schneller und besser integrieren
können als andere Institutionen. Und betont: «Versöhnung – der einzige Ort, an
dem ich sie wirklich finde, ist die Kirche.» Gott heile Menschen. Dadurch sei Versöhnung
erst möglich.
Sie selbst
habe nach ihrer Flucht viele tiefe Wunden gehabt. Ein Pfarrer habe ihr damals in den Worten Jesu gesagt: «Vergib
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» Das habe sie frei gemacht. «Ich
lernte, dass man seine Feinde lieben lernen muss. Wir müssen beten, dass er uns
die Augen öffnet, damit wir das tun, was Christus tat.» Liebe sei der Schlüssel.
Daraus entstehe Heilung, Vergebung und Friede.
«Du kannst keinen Frieden stiften ohne Liebe»
«Wir sollten
verstehen, dass auch Terroristen meinen, etwas Gutes zu tun, und wir sollten
versuchen, dem Täter mit Liebe zu begegnen, ihn als 'Opfer des Feindes' zu
sehen.» Nach allem, was sie gelernt habe, sei heute ihr erster Gedanke: «Was
hat der Täter nötig, dass er das tut? Wie kann ich ihm helfen?»
Wenn
Marie-Christine Nibagwire ihre Geschichte erzählt, fragen junge Menschen oft,
was sie tun können. Wie kann der Friede zu einem Lebensstil werden? Ihre
Antwort lautet: «Liebe. Du kannst keinen Frieden stiften ohne Liebe.»
Versöhnung sei, den Anderen als jemanden zu sehen, der einen Wert hat. Und als
jemanden, der besser werden kann.
Marie-Christine
Nibagwire (51) lebt mit ihren drei Kindern (27, 13, 10) in London. Sie gründete
2001 die christliche Organisation «Safe Refuge Rwanda», um Flüchtlingen und
Überlebenden des ruandischen Genozids zu helfen, ihr Leben in Westeuropa und
Nordamerika neu aufzubauen. Der Film «How should the church welcome refugees»
erzählt aus ihrem Leben und beschreibt die Aufgabe der Kirchen im Umgang mit
Flüchtlingen.