Häufiger als in anderen Ländern im Nahen Osten
wenden sich junge Leute in Ägypten vom Islam ab und werden Atheisten oder Christen. Diese Beobachtung hat der holländische Christ und Nahost-Korrespondent Mounir Samuel gemacht. Er hat darüber einen langen Artikel in der säkularen Zeitschrift «De Groene
Amsterdammer» verfasst.
Ägypten ist eines
der Länder in der Welt, in denen es am gefährlichsten ist, vom Islam abzufallen
oder zu konvertieren. Ein Muslim, der seine Glaubenszweifel oder seinen Wunsch,
zu einer anderen Religion zu konvertieren, offen zum Ausdruck bringt, muss mit
harten sozialen und politischen Konsequenzen rechnen; Kündigung, Ablehnung
durch die Familie, Verlust von Freundschaften, Drohungen von Fundamentalisten,
Verhaftung, Folter, Gefängnis oder Ermordung durch Familienmitglieder oder
andere Verwandte sind die Regel und nicht die Ausnahme.
Islammüde
Doch im
Untergrund gibt es eine andere wachsende Strömung, beobachtet Mounir Samuel: Das Land ist
islammüde. Die dominierende Gegenwart des Islams in jedem Lebensbereich, die
Heuchelei der Geistlichen und Politiker und der Aufstieg von Salafisten und
Jihadisten hat viele junge Muslime zum Nachdenken gebracht. Sie suchen massiv
nach dem wahren Kern der Religion, und das führt zu zwei Resultaten: Sie werden
religiöser als ihre Eltern es jemals waren – oder das Gegenteil tritt ein.
Reaktion der Christen erzeugt Mitleid und
Bewunderung
Es besteht ein
steigendes Interesse am Christentum. Die Terrorwellen gegen Christen im Sommer
2013 und Frühling 2017 haben viele junge Ägypter nachdenklich gestimmt. Nicht
nur die Medien haben zum ersten Mal ausführlich über die prekäre Situation der
christlichen Minderheit in Ägypten berichtet; die friedliche Reaktion der
Leiter hat auch grosses Erstaunen und öffentliches Mitleid hervorgerufen.
Ein
Videoclip, in dem Christen eine Botschaft des Friedens und der Liebe in einer
niedergebrannten Kathedrale singen, ging um die Welt und zwang die ägyptische
Regierung, einen Hilfsfond für den Wiederaufbau der Kirchen zu errichten.
Ansprachen von christlichen Frauen, die den Mördern ihrer Ehemänner und Kinder
öffentlich Vergebung aussprachen, lösten in vielen Talk-Shows Bewunderung aus.
Kirchenwachstum: «Ein echtes Wunder am Nil»
Dr. Andrea Zaki Stephanous, Präsident der Protestantischen Kirche in Ägypten.
Die Zahl der
ägyptischen Kirchen wächst stetig. «Statistiker aus dem Westen, die das Ende
des Christentums im Nahen Osten vorhersagten, lagen falsch», sagt Pastor Andrea
Zaki Stephanous, Präsident der protestantischen Kirchen in Ägypten und
Vorsitzender aller evangelikalen Kirchen in der arabischen Welt. «Die Kirchen in
Ägypten, sei es die orthodoxe, die katholische oder die protestantische,
gehören zu den stärksten Kirchen in der Welt. Von Anfang an haben sie
Unterdrückung erfahren und haben doch stets überlebt. Es ist ein echtes 'Wunder
am Nil'.» Mit schätzungsweise 15 Millionen Christen ist Ägypten das arabische
Land mit der grössten christlichen Minderheit.
«Die
verschiedenen Kirchen in Ägypten haben ausgezeichnete Beziehungen zueinander», erklärt
Zaki. «Wir versuchen, zu der Regierung, den Medien und der Gesellschaft mit
einer Stimme zu sprechen. Als 2013 die Muslimbruderschaft an die Macht kam,
gründeten wir einen ägyptischen Kirchenrat und vereinigten darin die Leiter
aller Gemeinden im Land. Wir arbeiten in folgenden Bereichen zusammen: Vorschriften zum Bau von Kirchen,
Antidiskriminierung, Beratungen mit der Regierung und Kriseninterventionen. Wir
sind gewachsen und haben in den letzten Jahren viele neue Gemeinden gegründet.
Allein im vergangenen Monat habe ich mindestens zehn neue Pastoren in
verschiedenen Ortsgemeinden in ihrem Amt bestätigt.»
Volle Kirchen direkt nach Anschlägen
Das alte
christliche Sprichwort, dass «das Blut der Märtyrer der Same der Kirche ist»,
scheint in Ägypten auf jeden Fall wahr zu sein. Nach jedem Bombenanschlag
werden die Gemeinden voller. «Haben Sie die Bilder im letzten Jahr gesehen?»,
fragt Zaki. «Zwölftausend Menschen versammelten sich direkt hinter dem
Tahrir-Platz zu einem öffentlichen Gottesdienst. Die Strassen waren voll.
Genauso war es beim Ostergottesdienst, direkt nach den Anschlägen am
Palmsonntag. Die Menschen mussten stehen, weil es keinen Platz in den Bänken
mehr gab.» Der Glaube der Christen wurde neu belebt und viele Muslime bekehrten
sich zum Christentum.