„Monsieur SIDA“

Die Korruption im Tschad betrifft auch Aids

"Die überall grassierende Korruption im Tschad macht auch vor Aids nicht Halt", sagt Hans Ruedi Meier. Der Luzerner hat im Aids-Abwehr-Programm der Diözese Pala im Süden Tschads mitgearbeitet.

Durchquert wurde die Region Pala bis vor kurzem von einer Transitachse, auf der Lastwagen Güter aus den Häfen Kameruns in den Tschad transportierten. Aids breitete sich entlang dieser Strasse über Fernfahrer aus, die Kontakte mit örtlichen Prostituierten hatten.

Ein Teil dieser jungen Frauen seien überhaupt nicht berufsmässig tätig, sondern verkauften ihren Körper als Gelegenheitsprostituierte aus Geldnöten heraus, berichtet Hans Ruedi Meier.

Im Gebiet der Diözese Pala sind zwischen 20 und 25 Prozent der Bevölkerung von Aids betroffen - deutlich mehr als im Landesdurchschnitt: Im Tschad sind gemäss Uno-Schätzungen rund 5 Prozent der Bevölkerung HIV-positiv. Die Aids-Epidemie weiche die traditionell starke Solidarität in den Familien auf oder bringe sie sogar ganz zum Verschwinden, und für die Aids-Kranken heisse die neue Wirklichkeit meist Einsamkeit, sagt Meier.

Kipa: In den Dörfern prostituiert man sich nicht, aus Respekt vor der Familie…
Hans Ruedi Meier: Solange jedenfalls, als diese Regeln befolgt wurden. Das ländliche Milieu löst sich jedoch auf, insbesondere wegen der Abwanderung in die Städte. Es spielt indessen nicht nur die ländliche Abwanderung eine Rolle. Junge Leute, die ihre Dörfer verlassen haben, um in Kameruns Grossstädte wie Douala oder Yaoundé zu ziehen, und die sich dort mit Aids angesteckt haben, kehren inzwischen als Sterbende in ihre Heimatdörfer zurück.

Das Aids-Programm der Diözese Pala wurde von einer Schweizer Ordensfrau lanciert, die sich dabei an bereits Bestehendem in Kamerun inspirierte.
Die im April 2005 verstorbene Sanktgaller Ordensfrau Greth Marty, die den Ursulinen in Freiburg angehörte, hat das Programm bereits ab 1996 im Auftrag des Bischofs von Pala gestartet. Ich trat dem Team des "Centre Diocésain d'Information et d'Accompagnement des Malades" (Cediam) des Bistums und des Programms für Sexualkundeunterricht namens "Education à la Vie et à l'Amour" (Eva - Erziehung zum Leben und zur Liebe) bei.

Zum Büro und zur Beratungsstelle der Aids-Arbeit der Diözese wurde die ehemalige Kathedrale von Pala. Zum Team gehörten neben zwei tschadischen Mitarbeitern auch acht Freiwillige, fünf Männer und drei Frauen. Sie machten die Krankenbesuche. Denn weniger als die Hälfte der Bewohner in der Region von Pala sprechen nämlich französisch, sodass man die örtlichen Sprachen verwenden muss, um die Menschen überhaupt zu erreichen.

Die Menschen in den Dörfern vermeiden es, direkt von Aids zu sprechen.
Ja, sie nannten Aids "die Krankheit" oder "die grosse Krankheit", das waren die geläufigen Bezeichnungen. Durch das Erklären von Symptomen wie starke Müdigkeit, Durchfall, offene Wunden oder Juckreiz konnten wir den Leuten in den Dörfern die Augen öffnen, damit sie die Existenz von Aids anerkennen konnten. Sie hatten sich nämlich stets geweigert, dies zu tun und meinten, dass es so etwas nur in den Städten gäbe.

Als ich 2003 nach Pala kam, sprach man immer nur von den "Kranken". Man wollte die Wirklichkeit verstecken, denn die Tabus gibt es weiterhin. Unter uns professionellen Helfern in der Aids-Arbeit sprachen wir natürlich von HIV und Aids. Doch in den Dörfern draussen mussten wir immer aufpassen, um nicht zu schockieren. Trotz irriger Annahmen mussten sich die Dinge aber verändern, damit die Menschen die Verbindung zwischen der Krankheit und Aids machen konnten - sie sollten verstehen, dass dies nicht zwei Wirklichkeiten sind, die nichts miteinander zu tun haben. Sie haben dies dann zwar rasch begriffen, sind aber zum Schluss gelangt, dass man einfach damit leben müsse.

Die Bewusstseinswerdung hat also nicht unbedingt ein anderes Verhalten zur Folge.
Nein, soweit ich das während meines dreieinhalbjährigen Aufenthaltes im Tschad festgestellt habe. Aber immerhin: Jene jungen Leute, die Schritt um Schritt im Zug des Sexualbildungsprogramms "Education à la Vie et à l'Amour" ins Bild gesetzt wurden, konnten rascher und besser erfassen, worum es ging. In diesem Milieu wurde die Möglichkeit begriffen, Verantwortung für sich selber zu übernehmen, indem man sein Verhalten ändert. In Wirklichkeit sehen wir uns jedoch einer Art "sexueller Landstreicherei" gegenüber. Ich wurde oft mit der Überzeugung vieler konfrontiert, dass sie ihren sexuellen Impulsen sofort nachgeben müssen.

Ihnen habe ich zu erklären versucht, dass wenn sie diese vitale Energie verspürten, die sie nicht zu meistern vermögen, sie die Informationen benützen sollen, die sie erhalten - insbesondere über die Ganzheit ihres Seins, um auf ein künftiges Leben in einer Zweierbeziehung vorbereitet zu sein. Es gibt nicht nur das Triebhafte - man muss auch lernen, seine Triebe zu beherrschen.

Kann die Tradition in diesem Fall eine Hilfe sein?
Ob jung oder alt: Viele sind zwischen Tradition und Modernismus verloren. Die Tradition genügt nicht mehr, um ihnen Orientierung zu geben, und der Modernismus ebenso wenig. Letzteres übersetzt sich durch das Ungefähre und Beliebige, bei dem man denkt, alles sei möglich und erlaubt. Als Christen mit unserer spezifischen Sicht auf den Menschen, mit unserer Ethik und unserer Anthropologie schlagen wir eine andere Kultur vor. Die aber erwirbt sich nicht von selber!


Hans Ruedi Meier

Wenden sich die Dinge trotz allem zum Besseren?
Ganz sicher. Mit dem Zugang zu den antiretroviralen Medikamenten, welche die Lebenserwartung von Aids-Infizierten steigern, hat sich die Lebensqualität stark verbessert. Kurz bevor ich im Sommer 2006 den Tschad verliess, haben wir im Spital von Pala ein Analysegerät erhalten, um zu bestimmen, wie viele Lymphozyten vorhanden sind - es ist dies eine besondere Art von weissen Blutkörperchen, die das menschliche Immunsystem koordinieren.

Der Zugang zu den antiretroviralen Medikamenten ändert jedenfalls viel. Im Januar 2007 bin ich nach Pala zurückgekehrt, und da bin ich Menschen begegnet, die ihre Lebensfreude, ihre Kraft, ihr Gewicht und selbst ihren Sozialstatus wiedergefunden hatten. Das ist eine wahre Revolution! In den ersten zwei Jahren, als ich dort war, musste Schwester Greth, wenn sie auf Krankenbesuch war, jeweils aufpassen, wo sie ihr Auto parkierte. Nicht zu nahe jedenfalls, denn die Leute sagten: "Aids ist zu Besuch". Auch mich nannten die Menschen gelegentlich "Monsieur Sida", Herr Aids.

Ist die Aids-Behandlung für die Bevölkerung von Pala erschwinglich?
Früher in den meisten Fällen nicht. Es gab vor Ort weder ausgebildete Ärzte noch Medikamente. Und wer konnte sich die Reise von 450 Kilometern bis zur Hauptstadt N'Djamena leisten? Zu bezahlen ist auch die ärztliche Konsultation und die Behandlung. Heute kosten die subventionierten antiretroviralen Medikamente noch 5.000 CFA, umgerechnet etwa 12.50 Franken. Vorher kostete dies bis zu 70.000 CFA, also etwa 175 Franken. Das ist das Doppelte des Mindestlohnes im Tschad! Die Menschen starben damals wie die Fliegen.

Es gab zwar einen ausgebildeten medizinischen Dienst sowohl in N'Djamena sowie in Moundou, der wirtschaftlichen Hauptstadt des Tschad, aber wir, wir waren in der Provinz. Das Bezirksspital von Pala figurierte nicht einmal auf der Liste der Aids-Erkennungszentren. Wir mussten darum kämpfen und kamen erst im August 2004 dazu. Jetzt ist dieser Dienst da, doch es bleibt das ständige Problem der Medikamenten-Reserven.

Im Tschad wird seit wenigen Jahren Erdöl gefördert, und das bringt dem Staat beträchtliche Summen ein. Müssten diese gewaltigen Einkünfte nicht auch zur Finanzierung des Gesundheitsbereichs verwendet werden?
Der tschadische Staat müsste sich daran beteiligten, denn es gibt enorme Einkünfte aus dem Erdöl von Doba. Zumindest auf dem Papier ist eine politische Intention durchaus da, doch die Wirklichkeit vor Ort ist eine ganz andere. Der grösste Widerspruch besteht darin, dass die Staatsbeamten - in Erziehung, Gesundheit, Verwaltung - derzeit mehrere Monatslöhne ausstehend haben: Es ist dies eine traurige Wirklichkeit, die sie vor dem Sprudeln der tschadischen Erdölquellen nie gekannt hatten. Und da liegt meines Erachtens der grösste Skandal!

Die Verwaltung all dessen, was Aids betrifft, ist im Tschad defizitär. Die Aids-Organisation der Uno ("Onusida") hat internationale Gelder für 12 Millionen Dollars im November 2006 blockiert. Und das Entwicklungshilfe-Programm der Uno hat Beamte in den Tschad entsandt, um eine Untersuchung einzuleiten.


Karte vom Tschad

Die Position der Kirche in der Frage des Kampfes gegen Aids ist bekannt. Ist es vor Ort schwierig, diese Position umzusetzen?
Um deutlich zu sein: Man kann den Kampf gegen Aids nicht auf die Frage des Präservativ-Gebrauchs reduzieren. Das ist ein Teil der Mittel, aber nicht das Wesentliche: Es gibt kulturelle Elemente, die nicht vernachlässigt werden dürfen. Oft hört man zum Beispiel sagen, dass das Präservativ nicht gut für eine Beziehung sei, wirklicher Austausch nur Haut an Haut erfolgen könne.

Fragt man mich, so sage ich natürlich, dass man sich vor Ansteckung schützen muss, um das Leben des Partners und das eigene zu bewahren. Gleichzeitig erinnere ich aber auch daran, dass das Sexualleben nicht nur eine Frage des Sexualaktes, sondern vor allem der Zärtlichkeit, der Aufmerksamkeit und der Liebe ist, wie dies das Programm "Education à la Vie et à l'Amour" postuliert. Solche Aspekte sind unseren Gesprächspartnern häufig kaum bekannt. In den Kreisen der Ortskirche sagte man oft, dass das Präservativ nicht vollständig schützt.

Meinerseits stelle ich mich auf den medizinischen Standpunkt: Ist die Qualität des Produktes gut und wird dieses korrekt verwendet, so kann man von fast 100-prozentiger Sicherheit sprechen. Auch unser Arzt im Tschad kämpft darum, die diesbezügliche Ansicht der religiösen Kreise zu ändern.

Die tschadische Bischofskonferenz hat übrigens 2002 ein bemerkenswertes Schreiben zur Frage veröffentlicht. Dieses besagt, dass einem Paar, in dem einer der beiden Partner mit Aids infiziert ist oder sogar beide es sind, die Benützung des Präservativs aus ethischer Sicht gestattet ist. Aus moralischer Sicht ist dies eine wirkliche kleine Innovation auf Seiten der Bischöfe. Daran ist zu erkennen, dass die katholische Ortskirche im Begriff ist, sich in einigen Bereichen auf eine Weise zu entwickeln, die vor einigen Jahren noch als unannehmbar bezeichnet worden ist.

Der Luzerner Theologe und Gestalttherapeut Hans Ruedi Meier (51) hat im Auftrag der Bethlehem Mission Immensee dreieinhalb Jahre im Südwesten Tschads nahe der Grenze zu Kamerun gearbeitet.

Autor: Jacques Berset

Datum: 18.04.2007
Quelle: Kipa

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