Das Baby schreit wie am Spiess. In einem Jutesack gondelt es etwa einen halben Meter über dem Zementboden. Der Sack hängt an einer Waage, und während das Kleine untröstlich plärrt, strahlen die junge Mutter und die Stationsschwester um die Wette. Der süsse Schreihals ist wieder schwerer geworden. Und gesünder. Genau darum wurden er und seine Mutter vor ein paar Wochen in die Walga-Klinik eingewiesen, die vom Schweizer Hilfswerk «Mission am Nil» betrieben wird. Das Kleine war völlig unterernährt. Einzig die Haut und ein paar Muskelfasern hielten über Sehnen und Bänder die über 200 Knöchlein zusammen. Inzwischen ist aus ihm ein gesunder Wonneproppen geworden. – Unzählige weitere mangelernährte Babys werden durch das Ernährungsprogramm aufgepeppt, und die Mütter erhalten Unterricht in Säuglingspflege. Jeden morgen warten Dutzende Patienten auf Einlass ins Klinikgelände. Es besteht aus einer Handvoll Rundhüten und einem Trakt aus Fertigbauteilen. Jeder Patient bekommt einen Ausweis. Manche von ihnen mussten einen Tagmarsch zurücklegen, um in die Klinik zu gelangen. Die Walga-Klinik ist das einzige Spital in einem Gebiet von mehreren hundert Quadratkilometern. Die Walga-Region zählt zu den ärmsten Gegenden des Landes. Das medizinische Personal besteht aus einem emsigen Team aus der Schweiz und einer Mehrheit an einheimischen Mitarbeitern. Rund 50'000 Patienten pro Jahr drängen sich in ihre Räume. «Die Menschen kommen von immer weiter her», erzählt Klinikleiter Seyoum Tadesse. In der näheren Umgebung hat sich der Gesundheitszustand bereits massiv verbessert. Nun kommen auch die schwereren Fälle aus den entlegensten Gebieten, manchmal auf einer Bahre, getragen von acht Dorfbewohnern, die sich in zwei Viererteams beim Schleppen abwechseln. Mit sehr viel Glück nimmt sie jemand mit auf der äusserst wenig befahrenen «Strasse». Einmal wurde eine hochschwangere Frau oben auf einem schwerbeladenen Lkw in die Klinik gefahren. Noch bevor sie absteigen konnte, kam oben auf der Ladung des Fahrzeugs ihr Kind zur Welt. Das Personal reagierte rasch und brachte alles ins Lot. Jeden Tag gibt es in der Klinik eine Stunde Theorie. Gesundheitserziehung steht auf dem Programm. Tages- wie Langzeitpatienten haben daran teilzunehmen. In dieser Stunde werden Hygiene, Ernährung und Gesundheit gelehrt; ein Wissen, das sich, wenn die Patienten wieder daheim sind, weiterverbreitet. Wie zum Beispiel über den Gartenbau. In der Klinik ist dafür ein Mustergarten mit Gemüse angelegt. Ein wenig hapert das Ganze aber noch: Manche Mütter pflanzen zu Hause nun zwar Gemüse an. Aber statt einen Teil selbst zu essen, verwenden sie etwas für ihr Kind, und der Rest wird verkauft. Wenn Peter Lippuner in der Klinikmensa seine klare Stimme zum Gospel «Go, tell it on the mountain ... » erhebt und die bunte Schar, die an der Abendandacht teilnimmt, mit einstimmt; wenn die Abendkühle den Würgegriff der Tageshitze langsam löst und die braungebrannten Mitarbeiter ein letztes Mal den Schweiss ihres harten Tagwerks von der Stirn wischen, dann entdeckt man, dass die Mission nicht einfach ein humanitäres Hilfsprogramm abwickelt. Angespornt von Gottes Liebe, wird den Einheimischen die Hand gereicht für eine Hilfe zur Selbsthilfe. Siehe auch Teil 1: Äthiopien: Ochsen, Geier, Ackerbau 50'000 Patienten
Auf dem Lkw geboren
«Go, tell it on the mountain ...»
Oder Teil 2: Behinderte ernähren in Äthiopien ihre Familien
Datum: 04.11.2005
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch