Nigeria: Aufrufe zur Verständigung nach Wochen der Gewalt

Staatspräsident Obasanjo
Nigeria

Gewaltausbrüche und Menschenjagden aus ethnischen, religiösen und sozialen Gründen haben im Norden Nigerias seit Anfang Mai mehrere tausend Todesopfer gefordert. In den letzten Wochen wurden Dutzende von christlichen Dörfern von muslimischen Milizen überfallen. Zehntausende von Christen und Muslimen sind aus ihren Häusern geflohen, um dem Morden zu entgehen. Die Gewaltspirale hat auf allen Seiten in Nigeria den Wunsch nach einer nationalen Verständigungskonferenz verstärkt.

Das mit 125 Millionen Menschen bevölkerungsreichste Land Afrikas steht am Abgrund von Bürgerkriegswirren; die Einheit des föderal gegliederten Landes ist in Gefahr. Am 18. Mai verhängte Präsident Obasanjo den Ausnahmezustand über ein Gebiet Nigerias; unter demokratischen Umständen geschieht dies seit 1962 zum erstenmal.
Anstelle der Behörden setzte Obasanjo den pensionierten Generalmajor Chris Alli als Regenten ein. Betroffen ist der ans Territorium der Hauptstadt Abuja angrenzende zentrale Gliedstaat Plateau.

Der Auslöser: Massaker an Muslimen in Yelwa

In der Stadt Yelwa hatten am 2. und 3. Mai Tarok, Angehörige eines alteingesessenen christlichen Volks, Rache an Muslimen genommen, nach mehreren mörderischen Überfälle in den ersten Monaten des Jahres. Dabei wurden angeblich über 600 Muslime getötet und der Marktflecken verwüstet.

Dies führte nicht nur in Plateau, sondern auch in mehreren nordnigerianischen Gliedstaaten, welche seit 1999 die Scharia eingeführt haben, zu Gewaltausbrüchen: Wütende Muslime machten, teils unter Führung von leitenden Scharia-Polizisten, Jagd auf Christen, mit dem Ziel, die Angehörigen der anderen Religion zu vertreiben.

In der Millionenstadt Kano, der Metropole Nordnigerias, plünderten vom 12. Mai an mit Messern und Keulen bewaffnete muslimische Jugendliche die Häuser von Christen und brannten sie nieder. Wer nicht fliehen konnte, musste mit dem Tod rechnen.

Die Folge: Menschenjagden in Kano

Den Menschenjagden vorausgegangen war ein Treffen islamischer Organisationen. Das Treffen wurde laut der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main mit der Ankündigung beendet, die Muslime des nigerianischen Nordens wollten den Kampf gegen die Christen künftig bis zum Ende mit Waffen austragen.

Mehrere zehntausend Christen flüchteten aus ihren Häusern, viele suchten im Militärhauptquartier Zuflucht. Kirchenleiter in Kano sprachen von 600 getöteten Christen und zwölf zerstörten Kirchen. Die nächtliche Ausgangssperre setzte der Gewalt vorerst kein Ende.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch klagte die nigerianische Polizei wegen Schiessens auf ungefährliche Zivilpersonen an; dabei sollen 40 Personen umgekommen sein. „Die nach Kano entsandten Polizisten wurden angewiesen, blindlings auf die Menschen zu schießen“, erklärte der Afrika-Direktor von Human Rights Watch. „In einer solch unbeständigen Situation sollte die Polizei versuchen, für Sicherheit zu sorgen, und nicht noch mehr Menschen töten.“

Kampf um Land und Handelsmacht

Die Fronten verlaufen entlang religiöser und Volksgrenzen, doch der Hass entspringt auch den Rivalitäten um Land und Handelsvorteile. Bauern und Viehzüchter machen einander den knapper werdenden Boden streitig.

Die Angehörigen der alteingesessenen Stämme, meist Christen, fühlen sich bedroht durch die steigende Zahl der Muslime, die in den letzten Jahrzehnten von Norden zugewandert sind. Im September 2001 entlud sich die Spannung nach der umstrittenen Besetzung einer wichtigen Beamtenstelle in Jos, der Hauptstadt von Plateau, in blutigen Ausschreitungen.

Ein Tropfen, und das Fass läuft über

In diesem hasserfüllten Klima genügt ein Viehdiebstahl, das Niedertrampeln von Maisfeldern oder ein böses Wort als Auslöser für Racheaktionen. Anfang Jahr holten Viehzüchter vom muslimischen Volk der Fulani Bewaffnete aus anderen Gliedstaaten, um sich durchzusetzen. Bei den Angriffen, die zuerst nur hätten der Rückholung des gestohlenen Viehs dienen sollen, kamen Christen und auch Polizisten ums Leben.

Kurz darauf wurde in der Stadt Yelwa eine Kirche in Brand gesetzt, wobei Dutzende von Christen mit dem Pastor umkamen. Am 2. und 3. Mai schlugen die Bedrängten brutal zurück und verwüsteten Yelwa. Sie setzten auch das Stadtspital in Brand.

Trotz dem Ausnahmezustand, dessen Ausrufung in beiden Häusern des nigerianischen Parlaments grosse Mehrheiten fand, führten muslimische Milizen in den letzten Tagen ihre Racheaktionen weiter. Dabei greifen sie nicht nur die eingesessenen Bauern an, sondern auch die aus den christlichen Völkern im Süden zugewanderten Händler, mit welchen die Muslime aus dem Norden in Konkurrenz stehen.

Christen-Milizen suchen Vergeltung

In der christlichen Bevölkerung verstummen die Rufe nach Vergeltung nicht. „Es muss unbedingt eine Antwort auf diesen grundlosen Angriff geben“, sagte Ibrahim Luka einem Reporter, und dabei nickten die christlichen Milizionäre, die ihn mit ihren Macheten und Flinten umringten.

Die Gewalttaten über viele Jahre haben unter nigerianischen Christen die Entschlossenheit provoziert, „die Wange nicht mehr hinzuhalten“, sondern zurückzuschlagen, um ihre Existenz zu verteidigen.

Die Christen in den nördlichen Gliedstaaten Nigerias fühlen sich stärker bedroht, seit diese 1999/2000 das islamische Gesetz, die Scharia, einführten. Die Zentralregierung unter Präsident Obasanjo konnte die Einführung, welche Nigeria juristisch entzweit und zur Diskriminierung von Nicht-Muslimen führt, nicht verhindern.

Fehler der Kolonialherren

Die Spannungen haben auch viel weiter zurückliegende Gründe: In der Kolonialzeit erlaubten die Briten den mächtigen islamischen Herrschern von Sokoto, über ihr Territorium im Norden hinaus auch in zentralen Gebieten des Landes, wo Christen wohnten, Einfluss auszuüben.

Seit der Unabhängigkeit 1960 sind nicht nur Viehzüchter, sondern auch immer mehr wohlhabende Händler aus den grossen muslimischen Völkern der Fulani und der Haussa Richtung Süden gewandert, weil der küstennahe Teil des Landes aufgrund der Ölförderung reicher ist.

Dem Frieden eine Chance geben

Führer der Pfingstkirche (Pentecostal Fellowship of Nigeria) forderten am 20. Mai, dass der Ausnahmezustand auch in Kano verhängt wird. Pfingstler-Bischof Mike Okonkwo kritisierte die Bundesregierung, die die Christen zuwenig geschützt habe.

“Und doch glauben wir fest an die Einheit Nigerias. Darum rufen wir die Christen auf, ruhig zu bleiben, trotz der Tatsache, dass sie das Recht zur Selbstverteidigung haben in Gebieten, wo die Behörden in der Gewährleistung ihrer Sicherheit versagt haben.“

Der Generalvikar der Katholischen Diözese von Enugu, Prof. Obiora Ike, führt die Gewalt auch auf die Armut vieler Nigerianer und die politische Manipulation vor allem der Jugendlichen durch regionale Politiker zurück.

„Die Einführung der Scharia im Norden hat zu neuen Spannungen geführt. Wir verurteilen das sinnlose Morden, egal ob begangen von Muslimen oder fundamentalistischen Christen, und appellieren sowohl an die Regierung, die Bundesstaaten als auch an die Menschen selbst, aufzuwachen und dem Frieden eine reale Chance zu geben.“

Datum: 26.05.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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