Rwanda nach zehn Jahren: Julienne lebt für ihren Traum – trotz Trauma

Julienne bei der Abschlussfeier
In Karengera ging Julienne zur Schule.
Ihr Herz schlägt für Rwanda: Alfred und Lucie Tobler
Mittagessen der Sekundarschüler in Karengera

Im März hat Julienne Nyiramayira nach dreijährigem Studium an der Universität Kigali den Bachelor-Grad erlangt. Juliennes Weg zeigt beispielhaft, wie ihre Heimat Rwanda nach dem Völkermord von 1994 gesunden könnte. Das Tutsi-Mädchen überlebte damals, weil es von einem Hutu versteckt wurde…

Der Schweizer Pädagoge Alfred Tobler, der Julienne persönlich kennt, skizziert ihre bewegende Biografie:

Herbst 1993: Ein grosser, grauhaariger Mann macht mit seiner kleinen 13-jährigen Tochter Julienne zu Fuss den fast 10stündigen Weg über die Hügel nach Karengera. Julienne hat die offizielle Aufnahmeprüfung bestanden, aber die Finanzen für die Schuluniform, das Schulmaterial und das Schulgeld fehlen. Nach kurzer Beratung mit meinem Direktionsteam entscheiden wir uns für die Aufnahme.

Am anderen Morgen macht sich Vater glücklich auf den Heimweg. Julienne beginnt mit 92 anderen Sekundarschülern in unserer neu eröffneten Schule. Sie lernt eifrig, gehört bald zu den Besten. Ihre Freizeit nutzt sie fürs Singen und das Organisieren von Gesangs- und Gebetsgruppen.

Palmsonntag 1994: Mit allen Schülern machen wir uns auf den Weg zum Hügel Nduba. Kurz vor dem Urwald machen wir Halt bei einer Gruppe Häuser. Mit der ganzen Schar veranstalten wir ein Nachmittagskonzert mit Osterliedern. Einige Schüler erzählen von ihren Erlebnissen in der Schule. Die Schar der Zuhörer wird immer grösser. Von allen Hütten und Hügeln kommen sie und geniessen mit uns den Gesang der Jugendlichen und diese unerwartete Abwechslung, so kurz vor Beginn der Osterferien.

6. April 1994: Das Flugzeug des Präsidenten Habyarimana wird beim Landeanflug auf Kigali mit einer Rakete abgeschossen. Mit ihm kommen der Präsident von Burundi und hohe Regierungsbeamte ums Leben. Die Wut kennt keine Grenzen mehr und die Massaker beginnen.
Während Juliennes Vater und Brüder die Flucht ergreifen, rennt Julienne zu ihren Hutu-Nachbarn. Sie sind so überrascht, dass sie unverzüglich im Schlafzimmer das Bett zur Seite schieben und ein Loch in den Boden graben. Bald ist es für Julienne gross genug; sie legt sich hinein. Eine Grasmatte wird über die Öffnung gelegt und das Bett darüber gestellt. Nachts, wenn alles ruhig ist, kann sie zur Toilette gehen und etwas essen. So verbringt sie mehr als einen Monat.

Höchste Gefahr: Die Männer, die ihren Vater und ihre Brüder umgebracht haben, intensivieren die Suche nach Julienne. In einer regnerischen Nacht wird sie darum zu einer anderen Familie hoch in die Berge hinauf begleitet und kann dort mehrere Monate bleiben.

Mai 1995: Zu Fuss kommt Julienne nach Karengera. Wir nehmen sie bei uns auf, wie auch 12 andere Waisenkinder. Tränen fliessen, denn alle waren überzeugt, dass Julienne nicht mehr unter den Lebenden ist... Ihr Glaube und ihre Freude am Leben sind beispielhaft. Wenn andere in Trauer versinken, wird Julienne um Rat und Gebet gerufen. Die fehlenden Klassenkameraden werden ersetzt durch Waisenkinder, die den Weg zu uns nach Karengera gefunden haben und hier die Schule fortsetzen. Julienne organisiert Gebetsgruppen und den Schülerchor und ist als Seelsorgerin sehr gefragt.

Sommer 1998: Julienne ist sich des Risikos, das ihre Nachbarn eingingen, voll bewusst. Sie veranstaltet ein kleines Fest mit Einverständnis der Nachbarn und des zuständigen Pastors. Ein Gottesdienst mit Gesang und Zeugnissen umrahmt die Übergabe zweier Ziegen und weiterer Geschenke und ein einfaches Essen. Ob dies wohl das einzige Dankesfest war, das ein Tutsi-Überlebender einem Angehörigen des Hutuvolks bescherte?

Abschlussprüfung 2000: Mit Auszeichnung schliesst Julienne die Mittelschule ab. An einer Universität im Nachbarland Uganda studiert sie für ein Jahr die englische Sprache, die im neuen Rwanda sehr wichtig geworden ist.

Versöhnung gelebt: Julienne hat nicht nur den Mördern ihrer Familie vergeben können, sondern lebt täglich in dieser Versöhnung, indem sie sich auch an der Uni in Kigali in Gebets- und Bibelgruppen engagiert. Warum? Weil sie einfach glücklich ist über das neu geschenkte Leben.

Ein Traum: Zwei Tage nach der Bachelor-Feier, am 21. März 2004, schreibt uns Julienne: „Ich war so glücklich und hübsch an diesem wunderschönen Fest! Dank eurer finanziellen Hilfe konnte ich ein hübsches Kleid, neue Schuhe und eine Handtasche kaufen. Mit neuem Eifer mache ich mich jetzt hinter die Diplomarbeit.

Ich habe so gute Noten erhalten, dass mich ein neuer Traum erfüllt, nämlich nun auch ein Master-Studium in Micro-Finance oder Bankwesen zu machen. Ich weiss, dass diese 3 zusätzlichen Jahre eine grössere Summe Geld kosten werden. Im Gebet habe ich meinen Herrn, den ich so liebe, gebeten, mir den richtigen Weg zu zeigen.“

Weitere Infos: www.prorwanda.ch

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Autor: Alfred Tobler leitet das Missionswerk Pro Rwanda.

Datum: 03.05.2004
Quelle: Livenet.ch

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