Mit der Bibel lesen und leben lernen – in Ägypten

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Kreativ: Ramez Atallah, Generalsekretär der ägyptischen Bibelgesellschaft
Bibelkiosk an einer Autobahnraststätte
Bibelleseklasse
Bibel-Werbung am Ramses-Platz in Kairo

76 Jahre alt ist sie – und will noch richtig lesen lernen. Vor allem will sie die Bibel selbst lesen können. In einem Kurs der ägyptischen Bibelgesellschaft lernt die Grossmutter die Heilige Schrift lesen. Und sie betet, dass ihr die Jahre noch geschenkt werden, das ganze Buch durchzulesen.

Mehr als die Hälfte der Frauen im Nilland – und ein Drittel der Männer – können nicht lesen. Dazu kommt, dass viele Ägypterinnen zwar einmal lesen lernten, aber ihre Fähigkeiten im täglichen Überlebenskampf verlieren. Ihnen bietet die ägyptische Bibelgesellschaft Leseklassen an.

In Gruppen lesen Frauen und Männer aller Altersgruppen unter kundiger Leitung Abschnitte der Bibel und neuere Texte. Kinder sitzen neben Greisen. Sie beginnen neu zu lesen oder frischen Fähigkeiten auf, die verschüttet wurden. Dies ist ein Beitrag im Kampf gegen den Analphabetismus in Nilland, dessen Bevölkerung seit Jahrzehnten rasant wächst.


Für eine 10-Millionen-Kundschaft

Die koptische Kirche ist mit über acht Millionen Gliedern die grösste arabischsprachige Kirche der Welt; dazu kommen die kleineren Kirchen des Nillandes. Eine dringend nötige Dienstleistung erbringt die ägyptische Bibelgesellschaft, der weltweit bedeutendste Bibelverlag in arabischer Sprache.

Ramez Atallah, Generalsekretär der Bibelgesellschaft: „Wir sind für alle Kirchen und weitere Interessierte da; so rechnen mit einer potentiellen Kundschaft von 10 Millionen Menschen.“

Bibellese mit Folgen

Die Lesekurse sind der neuste Hit. Vor einem Jahr waren über 20'000 Personen am Lernen. Die neueren Texte, die neben der Bibel gelesen werden, hat die Bibelgesellschaft in Absprache mit der Koptischen Kirche zusammengestellt. Ein Teil der Finanzen kommt von ihrer Schwesterorganisation in Australien, die dreimal 100'000 Franken für die Ausbildung von 4'000 Lehrern aufbringen will.

Ramez Atallah hofft, schliesslich 250'000 Personen unterrichten zu können. Er staunt, wie die Lektüre die Menschen verändert: „Eine Gruppe von jungen Männern sah auf dem Weg zum Kurs einen toten Esel in der Mitte der Strasse. Sie liessen ihn liegen, wie das in Ägypten üblich ist. Im Kurs lasen sie einen Text über den Dienst an der Gemeinschaft. Dieser bewegte sie so stark, dass sie auf dem Rückweg den Kadaver auf die Seite räumten.“

An Messen, in Einkaufszentren, an Autostrassen…

Die Bibelgesellschaft setzt laut Atallah jährlich etwa 150'000 Bibeln, eine halbe Million Neue Testamente und bis zu einer Million Audio-Kassetten ab; dazu kommt eine kleine sechsstellige Zahl von Videos. 2004 ist im Nahen Osten ein „Jahr der Bibel“; die Bibelgesellschaften unternehmen besondere Aktionen, um die Heilige Schrift unter die Leute zu bringen.

Gemäss Atallah hat jede Kirche in Ägypten einen Buchladen oder einen Büchertisch. „Aber man sagt, dass nur 20 von 100 Christen im Land zur Kirche gehen. So haben wir selbst einige christliche Buchhandlungen und sind in Messen und Ausstellungen mit Ständen vertreten.“ Wo es nur möglich ist, wird ein Tisch gemietet – auch in Clubs und Einkaufszentren. „Dazu stellen wir Kioske an Strassen auf und liefern Bibeln nach Hause.“

In Ägypten ist es verboten, Muslime zum christlichen Glauben einzuladen. Die Abgabe von Gratisliteratur würde darunter fallen. Die Bibelgesellschaft arbeitet für die christliche Minderheit. „Wenn ein Muslim etwas kaufen will, freuen wir uns, aber wir richten unsere Bemühungen nicht auf ihn aus. Und wir schenken nichts; er kauft aus freien Stücken ein christliches Produkt an einem Stand, der klar christlich gekennzeichnet ist.“ Atallah unterstreicht, dass so Täuschung ausgeschlossen ist. Alle Literatur wird von der staatlichen Zensur geprüft und genehmigt.

Die Bibel allein – Texte gezielt ausgewählt

Im Gespräch mit Livenet weist Ramez Atallah darauf hin, dass die Bibeln und Bibelteile ohne Erläuterungen gedruckt werden. „So können wir der koptischen Kirche dienen. Sobald man Erläuterungen beifügt, werden bestimmte Eigenheiten sichtbar, die manche Leser, auch in evangelischen Kirchen, stören würden.“

Akzente setzt die Bibelgesellschaft, indem sie bestimmte Bibeltexte in Broschüren zusammennimmt, mit dem Ziel, „dass die Menschen aus allen Kirchen in leicht fasslicher Form das Leben von Jesus und seine Lehre aufnehmen können“.

Die Bibelübersetzung stammt aus dem Jahr 1885. Vorteil: Alle Kirchen im Land akzeptieren sie. Aber: „Das Arabisch dieser Ausgabe ist veraltet und bereitet vor allem jungen Ägyptern Mühe damit. Doch diese lesen ohnehin nicht viel. Für sie produzieren wir Audiokassetten und Videos in der Umgangssprache, die sich vom Hocharabischen stark abhebt.“

Laut Atallah wünschen nicht nur Jugendliche, sondern auch Gemeindeleiter eine neue Übersetzung. Aber die Risiken sind beträchtlich: „Muslime könnten das Gefühl bekommen, wir hätten die Bibel eigenmächtig abgeändert. Dazu kommt, dass die Kirchen Mühe haben werden, sich auf einen Text zu einigen.“

Hand in Hand mit den Kirchen

Kommen aufgrund der Bibelverbreitung mehr Leute in die Kirchen? „Wir hören von vielen, dass das Lesen eine tiefe Veränderung in ihrem Leben bewirkt hat. Die Kirchen freuen sich darüber – wir liefern nützliche Werkzeuge, mit denen sie den Menschen dienen können.“

Im koptischen Gottesdienst gibt es laut Atallah nicht weniger als neun Bibellesungen. Weil in der Nacht von Karfreitag in allen koptischen Kirchen weltweit das ganze Buch Offenbarung gelesen wird, hat die Bibelgesellschaft auch dieses letzte Buch der Bibel als eigenen Titel im Sortiment. Die Kopten kennen ein Jona-Fasten; die Bibelgesellschaft stellt den Text zur Verfügung.


Kopten – eine Kirche lebt mit der Bibel

Ramez Atallah ist hörbar stolz auf die Gepflogenheiten in seiner Heimat: „Die koptische Kirche lebt mit der Bibel – viel mehr als manche protestantische Kirchen.“ Der Bibelunterricht nimmt in der uralten Kirche einen grossen Raum ein, und lange Texte werden auswendig gelernt.

„Zu den wöchentlichen Bibelstunden von Papst Schenuda III. und vielen Bischöfen und Priestern finden sich viele tausend Gläubige ein. Unser Kirchenoberhaupt hat jeden Mittwoch etwa 7'000 Zuhörer. Übers ganze Land finden Sie Orte, wo die Bibel wöchentlich gelehrt und ausgelegt wird.“

Woher dieser grosse Hunger nach der Bibel? Laut Atallah entwickelte er sich vor Jahrzehnten durch eine Sonntagschulbewegung. „Eine ganze Generation von koptischen Christen hat da gelernt, sich an die Bibel zu halten.“ Das Verlangen nach Bibeln ist alt; die Bibelgesellschaft sucht alle Möglichkeiten zu nutzen, um ihm zu entsprechen.

Kreativer Umgang mit knappen Mitteln

Ramez Atallahs Aktionsradius wird durch knappe Mittel begrenzt. „Davon abgesehen, haben wir alles, wovon wir träumten, tun können. Wir verkaufen seit langer Zeit dasselbe Produkt. Wir sind kreativ, um es in immer neuer Form anzubieten.“

Im Sommer 2001 konnte die Bibelgesellschaft entlang der Autobahn Kairo-Alexandria Plakatwände aufstellen, im folgenden Jahr gelang es ihr, Werbung an einem Autobahnpfeiler im Herzen von Kairo am Ramses-Platz zu platzieren. Seit acht Jahren fördern auch die Sendungen des christlichen Satellitenkanals Sat-7, die in Kairo produziert werden, das Interesse am heiligen Buch der Christen.

Datum: 03.05.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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