Vergessen hilft nicht – Versöhnung tut not: Ruanda zehn Jahre später

Juvenal Habyarimana
Emmanuel Kolini (links) diskutiert mit Tim Dakin und und Paul Butler vor der Kigali Cathedrale

Christen in Ruanda arbeiten an vorderster Front für Wiederherstellung und Versöhnung im Land, wo im Frühjahr 1994 während hundert Tagen Mörderbanden wüteten. Sie besuchen die Häftlinge in den Gefängnissen und dringen auf Reue und das Bekennen – die Voraussetzungen, dass Täter nach alt-afrikanischer Weise mit Hinterbliebenen konfrontiert werden können.

Gestern Dienstag jährte sich zum zehnten Mal ein Flugzeugabsturz, der tragische Folgen hatte für ein ganzes Volk: Der ruandische Präsident Juvenal Habyarimana wurde am 6. April 1994 in seiner Maschine abgeschossen. Kurz darauf ging dass massenhafte Morden los: Angehörige des Mehrheitsvolks der Hutu zogen durchs Land, um die Tutsis auszurotten. Innert hundert Tagen kam fast eine Million Menschen ums Leben, Tutsis und auch Hutus, die sich den Machete-Mördern entgegenstellten.

Zehn Jahre später sucht Ruanda seine Zukunft – mit Zehntausenden von Genozid-Angeklagten in den Gefängnissen. Und einer niederdrückenden Erinnerung: Die Gräuel sind unbeschreiblich; den Hinterbliebenen steht ihr Verlust jeden Tag vor Augen. Theodore hat damals viele Angehörige verloren, auch seinen Vater, und äussert mit schmerzerfüllter Stimme: „Ohne den Völkermord hätte ich mein Uni-Studium abschliessen und eine Familie gründen können. Eine Frau und Kinder haben! Ich bete viel, dass ich vergeben kann.“


Strafen allein heilt die Wunden nicht

Wie kann das schrecklich versehrte Land – wohl ein Achtel seiner Bevölkerung kam ums Leben – einen Weg finden? Wie kann es den Tätern eine Perspektive eröffnen, ohne das Leid und die Ansprüche der Hinterbliebenen unter den Tisch zu wischen und sie zu brüskieren? Der anglikanische Kapstädter Erzbischof Desmond Tutu schlug kurz nach dem Genozid einen dritten Weg zwischen Vergeltungsjustiz und nationalem Vergessen vor.

Aufgrund von Tutus Vorschlägen erweckte die ruandische Regierung 1999 die Gacaca-Gerichtsbarkeit wieder zum Leben. In der Zeit vor der belgischen Kolonialherrschaft hatten die Dorfältesten Streitigkeiten geschlichtet, Opfer und Täterfamilie in Beziehung gebracht und ein Schuldbekenntnis und Wiedergutmachung erwirkt. Diese Form der Gerichtsbarkeit wurde in kolonialer Zeit abgeschafft; die christlichen Missionare betonten statt der Wiedergutmachungspflicht der Täterfamilie die individuelle Schuld des Täters.

Immer mehr Gacaca-Gerichte

Heute werden wieder Gacaca-Gerichte eingerichtet, zusätzlich zu den staatlichen Gerichten und dem UNO-Tribunal in Arusha im Nachbarland Tansania. Ihr Ziel: Wiederherstellung der Beziehungen zwischen den Menschen. Im Land von acht Millionen Menschen soll es schliesslich 9'000 solche Gerichte geben.

Der Jurist Anastare Balinda: „Der Sinn der Gerichte ist, Beziehungen wiederherzustellen, obwohl damit auch Strafe einhergeht.“ Die Einheimischen erhoffen sich von Gacaca einen Beitrag zur Überwindung der lähmenden Traurigkeit. „Gib zu, was du getan hast. Die Wahrheit wird das Land heilen“, heisst es auf Plakaten an den Landstrassen.


‚Sünde ist real’

„Wir haben unsere Landsleute umgebracht. Der physische Genozid war eine Reaktion auf geistliche Leere.“ Dies sagt Emmanuel Kolini, der anglikanische Erzbischof von Kigali und Ruandas bekanntester Protestant. „Manche Leute leugnen, dass Sünde eine Realität ist. Hier in Ruanda wissen wir es: Sünde ist real. Sie ist bitter. Sie ist ein Feuer. Ruanda hat mir geholfen, die Tiefe und Schwere von Sünde zu verstehen.“

Als Direktor eines Gefängnisses in der Hauptstadt Kigali bringt Muligo Faustin Opfer und Täter im Sinn von Gacaca zusammen. „Der Killer ist ein Mensch. Der Überlebende ist ein Mensch. Ich habe beide anzuhören als ein Mensch.“

In seinem grossen Komplex haben schon über 1'500 Insassen ihre Untaten bekannt, vor Zeugen ausgesprochen. Gefängnisseelsorger und Pastoren aus der Stadt hören jedem einzeln zu, hören auch die Opfer klagen. Das Bekenntnis der Täter erlaubt den Gacaca-Gerichten, die Strafe zu ermässigen, wenn sie die Entschädigung der Opfer festlegen. Faustin: „Der Ankläger und ich müssen uns einig sein, wenn eine Freilassung erfolgen soll.“


Missionare und Kirchenmänner

Ausländische Hilfswerker und Missionare leisten einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau und Neustart. Im Internet-Dienst von Christianity Today schildert Timothy C. Morgen, der das Land mehrfach bereist hat, das Engagement der holländischen Jüdin Sonja Hoekstra-Foss. Sie verlor einst durch die Nazis ihre Familie; jetzt hilft sie den Hinterbliebenen, über ihre Hassgefühle zu reden, sie vor Gott zu bringen. Vergeben – auch wenn man nicht vergessen kann. Vergeben, weil Gott Versöhnung in die Welt gebracht hat, mit dem Tod von Jesus Christus am Kreuz.

Der anglikanische Erzbischof Kolini, ein Tutsi, wurde auf die Gefahr hingewiesen, in die er sich bei einer Reise in die Nähe eines Hutu-Camps begab. Für den Konfirmationsgottesdienst reiste er hin und nahm auch am Mittagessen teil – trotz Vergiftungsgefahr. „Diese Menschen sind meine Freunde im Herrn und im Evangelium.“ Mit solchen Schritten treten die Kirchen, deren Vertreter sich 1994 vielfach schuldig machten, heraus aus dem Sumpf der Schuld.

Aufs Vergeben kommts an

Alles hängt schliesslich an der Bereitschaft zu vergeben. Deborah Niyakabirika und ihr Sohn überlebten 1994, doch wurde er in einem ethnisch bedingten Racheakt drei Jahre später umgebracht. Einige Monate später kam ein junger Mann zu Deborah: „Ich habe Ihren Sohn getötet. Bringen Sie mich zu den Behörden, dass sie mich bestrafen. Ich habe nicht mehr schlafen können, seit ich ihn erschossen hatte. Immer wenn ich mich hinlege, sehe ich Sie beten, und ich weiss, Sie beten für mich.“

Deborah antwortete: „Du bist nicht mehr ein Tier, sondern ein Mann, der für seine Taten die Verantwortung übernimmt. Ich will nicht Tod auf Tod folgen lassen.“ Und sie sagte, dass er Wiedergutmachung leisten solle, indem er an die Stelle des getöteten Sohnes trete: „Ich fordere dich auf, mein Sohn zu werden.“

Datum: 07.04.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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