Lebensrechtler Lerle wieder auf freiem Fuss

Der lutherische Theologe Johannes Lerle

Bayreuth. Der christliche Lebensrechtler Johannes Lerle (Erlangen) ist wieder auf freiem Fuss. Der promovierte evangelische Theologe hatte in der Justizvollzugsanstalt Bayreuth eine siebeneinhalbmonatige Gefängnisstrafe verbüsst.

In mehreren Flugblättern hatte er den Nürnberger Abtreibungsspezialisten Andreas Freudemann als “Berufskiller” und “Folterknecht” bezeichnet, “der schlimmer als im KZ foltere”. Während seiner Haftstrafe habe er weit mehr als 100 Solidaritätsgrüsse erhalte, erklärte Lerle. Er kündigte an, in einem neuen Flugblatt gegen die “abtreibungsfreundliche Politik der CSU” vorgehen zu wollen. “Die CSU unterstützt den Kindermord”, so Lerle. 1995 habe eine deutliche Mehrheit der CSU-Bundestagsabgeordneten für das geltende Abtreibungsrecht gestimmt.

Auch für seine eigene Gefängnisstrafe machte Lerle den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber mitverantwortlich: Als “Kindermordkritiker” sei er, Lerle, von der Nürnberger Staatsanwaltschaft verfolgt worden. Diese aber unterstehe dem Justizminister, der wiederum dem Bayerischen Ministerpräsidenten untersteht. Lerle: “Somit ist Herr Stoiber für diese Strafverfolgungen persönlich verantwortlich.”

Wie kam es dazu?

Der lutherische Theologe Johannes Lerle hat Anfang September 1997 vor dem Klinikum Nord in Nürnberg Handzettel verteilt mit der Überschrift: Kindermord im Klinikum Nord Dr. Freudemann tötet Kinder Freudemann (Nürnberg) und Stapf (München) sind die beiden Mediziner, die sich vor dem höchsten Gericht in Deutschland das Recht erstritten haben, mehr als "nur" 25 Prozent ihres "Verdienstes" aus der Tötung von Kindern im Mutterleib zu holen Stapf hat nach eigenen Angaben ca. 70.000 Kinder im Mutterleib umgebracht, Freudemann ungefähr halb so viele.

Zunächst wurde eine Hausdurchsuchung bei Lerle, bei der 2.800 seiner Flugblätter "sicher"gestellt wurden, und anschliessend eine ganze Menge Prozesse. In einem Zivilprozess der Stadt Nürnberg wird Lerle unter Androhung von Zwangsmassnahmen untersagt, "wörtlich oder sinngemäss folgende ,Behauptungen' aufzustellen und/oder zu verbreiten:

1. 'Kindermord im Klinikum Nord'

2. 'Im Klinikum Nord werden Babys getötet."'

Schlimme Entwicklung

Lerle wurde wegen Beleidigung (§ 185 StGB) verurteilt. Unter Beleidigung ist ein rechtswidriger Angriff auf die Ehre durch Kundgabe von Missachtung oder Nichtachtung zu verstehen.1

Das BVerfG vertritt jedoch in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass im Rahmen politischer oder gesellschaftlicher Auseinandersetzungen eine Vermutung für die Zulässigkeit der Meinungsäusserung besteht, auch wenn diese ehrverletzend ist.2 Dies ergebe sich aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Dieses sei in einer freiheitlichen Demokratie von grundlegender Bedeutung.

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit wolle gewährleisten, dass jeder frei sagen kann, was er denkt, auch wenn er für sein Urteil keine nachprüfbaren Gründe angibt oder angeben kann.3 Es komme auch nicht darauf an, ob die Äusserung rational oder emotional ist, ob sie als wertvoll oder wertlos, als richtig oder als falsch angesehen wird.4 Vor allem strafrechtliche Verurteilungen seien zu vermeiden, da hierdurch eine Einschüchterungswirkung erzeugt werde und die Gefahr der Lähmung und Verengung des Meinungsbildungsprozesses bestehe.5

Unzulässig soll im Wesentlichen nur noch Schmähkritik sein. Diese liege dann vor, wenn nicht die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person des Angegriffenen im Vordergrund steht.6 Bei Äusserungen über die Öffentlichkeit wesentlich berührende Fragen sei hiervon allerdings nur ausnahmsweise auszugehen.7

Diese Grundsätze gelten im Übrigen nicht nur bei Meinungsäusserungen gegen Personengruppen (Ärzte, Soldaten usw.), sondern auch gegen Einzelpersonen; die Rechtsprechung des BVerfG macht insoweit keine Einschränkungen.8

Anhand dieser Grundsätze hätte eine Verurteilung Lerles offenkundig nicht erfolgen dürfen. Denn es ging Lerle mit seinen Äusserungen darum, das Unrecht der Abtreibung anzuprangern und die Öffentlichkeit aufzurütteln und zu einem Umdenken zu veranlassen. Gleichzeitig wollte er das verwerfliche Verhalten eines Frauenarztes anprangern, der selbst zahlreiche Abtreibungen vornimmt und darüber hinaus einer der Wortführer der politischen und wirtschaftlichen Interessen von Abtreibungsärzten ist.

Darauf, ob die Gerichte die Auffassung Lerles teilen und Abtreibungen ethisch als Mord bewerten, kommt es nach dem oben Gesagten nicht an, da nach der Rechtsprechung des BVerfG ja ohne Bedeutung ist, ob das geäusserte Werturteil sachlich zutreffend ist oder nicht. In vergleichbaren Fällen hat das BVerfG auch stets angenommen, dass es dem Äussernden um die Sache geht und nicht darum, den Angegriffenen persönlich zu diffamieren.9

Nun wird die oben genannte Rechtsprechung des BVerfG von vielen Juristen wohl zu Recht mit der Begründung abgelehnt, dass sie den Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung nahezu völlig beseitigt.10 An der Zulässigkeit der Äusserungen Lerles würde dies jedoch nichts ändern. Denn es ist zu bedenken, dass Abtreibungen nicht nur nach christlicher Auffassung, son-dern auch nach den Grundsätzen der gegenwärtigen bundesdeutschen Rechtsordnung rechtswidrige Tötungen menschlichen Lebens darstellen.

Denn das BVerfG erkennt an, dass auch der Embryo menschliches Leben darstellt und dass das ungeborene Leben prinzipiell in gleicher Weise schutzwürdig wie das geborene Leben ist.11 Dass daraus im StGB sowie in den anderen bundesdeutschen Gesetzen keine entsprechenden Konsequenzen mehr gezogen werden, ist eine andere Frage, die aber diese Feststellung nicht berührt.

Ferner hat das BVerfG in seinem Grundsatzurteil vom 28. Mai 1993 festgestellt, dass Abtreibungen, für die keine Indikation festgestellt wurde oder für die nach früherem Recht nur die soziale Indikation vorlag, rechtswidrig sind.12 Hieran hat es auch in einem weiteren Urteil aus dem Jahre 1998 festgehalten.13

Die vorsätzliche und rechtswidrige Tötung menschlichen Lebens stellt aber nun nach dem Wertsystem des Grundgesetzes eine in höchstem Masse verwerfliche Handlung dar, so dass deren drastisch-plakative Bewertung als «Mord» eine angemessene und damit zulässige Bewertung darstellt. Denn es ist zulässig, seine Meinung in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auch in drastischer, harter, scharfer, überspitzter und provokativer Form zu äussern.14 Dies gilt auch dann, wenn diese Bewertung personalisiert, d. h. auf konkrete Personen bezogen wird, die die kritisierten Handlungen vornehmen.

Mit welcher Begründung rechtfertigten nun aber die in dieser Sache urteilenden Gerichte – bis hin zum BVerfG – die strafrechtliche Verurteilung Lerles?

Das Amtsgericht Nürnberg ging davon aus, dass es Lerle nicht um einen Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung zum Thema «Abtreibung» gegangen sei, sondern um die Schmähung des angegriffenen Mediziners. Das Gericht führte hierzu wörtlich aus: «Der Angeklagte hat ... erklärt, dass er den Geschädigten Dr. F. persönlich deswegen angreift, weil dieser eben der Täter ist und vor Ort arbeitet und weil Dr. F. die Klage beim Bundesverfassungsgericht unterschrieben hat ... Dem Angeklagten geht es daher darum, jemanden zu schmähen, der von seinen gesetzlichen Rechten Gebrauch macht ... Der Angeklagte tritt daher in Wirklichkeit nicht hervor und an die Öffentlichkeit als jemand, der die Abtreibung verabscheut und dafür kämpfen will, dass die Abtreibung als solche wieder rückgängig gemacht wird. Der Angeklagte will jemand schmähen, der Abtreibungen vornimmt (obwohl diese im gegebenen Umfang zulässig sind) und der rechtliche Schritte gegen eine Ausführungsregelung unternimmt».15 Diese Unterstellung einer Schmähungsabsicht stellt das Anliegen Lerles und anderer Lebensrechtler geradezu auf den Kopf.

Auch die Berufungsinstanz, die 8. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth, war der Auffassung, dass es Lerle nicht um einen Beitrag zur Sache, sondern um die Schmähung Dr. F.'s gegangen sei. Darüber hinaus fanden sich in diesem Urteil weitere erschreckende Aussagen. So heisst es dort etwa, Embryonen seien keine Menschen, Lerle wisse dies genau und behaupte dies nur deshalb, um Dr. F. ungestraft beleidigen zu können.16 Und dieser Begründung hat keines der angerufenen höheren Gerichte widersprochen!

Das Bayerische Oberste Landesgericht verwarf die Revision Lerles mit Beschluss vom 22. Juni 1999 ohne mündliche Verhandlung als «offensichtlich unbegründet». Das ist bei einer strafrechtlichen Verurteilung wegen einer Äusserung zu einer die Allgemeinheit wesentlich berührenden Frage schon erstaunlich, da ja hier nach Ansicht des BVerfG eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede besteht und es schon eingehend begründet werden müsste, warum dieses Recht im konkreten Einzelfall gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Angegriffenen zurückzutreten hat. Eine solche Begründung fehlte in dem Beschluss des BayObLG jedoch praktisch völlig.

Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde Lerles wurde vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Die Begründung bestand im Wesentlichen nur in einem einzigen Satz: «Auch der Kampf gegen ein vermeintliches Unrecht gibt dem Beschwerdeführer nicht das Recht, seinerseits anderen Unrecht zuzufügen».17 An dieser Begründung erstaunt als Erstes, dass die Abtreibung als «vermeintliches Unrecht» bezeichnet wird, obwohl das BVerfG selbst der Auffassung ist – oder zumindest bis zu diesem Zeitpunkt war –, dass nicht indizierte oder nur auf die soziale Indikation gestützte Abtreibungen rechtswidrig sind, ja dass sie sogar vom Gesetzgeber als Unrecht gekennzeichnet werden müssen. Dann aber sind diese Abtreibungen, die den weitaus grössten Teil der Abtreibungen ausmachen, kein «vermeintliches» Unrecht, sondern wirkliches.

Des Weiteren spricht das BVerfG nur davon, dass hier einem anderen «Unrecht» zugefügt worden sei. Hier ist auf einmal keine Rede mehr von den Grundsätzen, die das BVerfG in seinen sonstigen Entscheidungen hervorhebt, etwa dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit ein für die freiheitlich-demokratische Grundordnung konstitutives Recht darstellt, dass jeder sagen können muss, was er denkt usw.

Schliesslich fehlt jede Auseinandersetzung mit der Auffassung der Instanzgerichte, wonach es Lerle nicht um die Sache, sondern um die Schmähung des Angegriffenen gegangen sei und das angesichts seiner eigenen Rechtsprechung, wonach Schmähkritik in der politischen oder gesellschaftlichen Auseinandersetzung nur ausnahmsweise anzunehmen sei und im Allgemeinen auf die sog. Privatfehde beschränkt sei. Das BVerfG hätte somit zumindest eingehend prüfen müssen, warum hier eine solche Ausnahme vorgelegen haben soll. Aber es fehlt jegliche Begründung dazu.«Fall Lerle» ist kein Einzelfall

Der «Fall Lerle» ist kein Einzelfall in Deutschland. Seit einigen Jahren müssen Lebensrechtler nicht nur wegen Äusserungen wie «Berufskiller» mit straf- und zivilrechtlicher Verfolgung rechnen, sondern auch wegen weitaus harmloseren Äusserungen, für die Vertreter anderer politischer Richtungen und Interessen zehnmal das Grundrecht der Meinungsfreiheit für sich in Anspruch nehmen können.

• Ein Lebensrechtler wurde im Dezember 2001 vom Landgericht Heilbronn zur Unterlassung folgender Flugblattäusserungen verurteilt: «Stoppt rechtswidrige Abtreibungen in der Praxis Dr. K., Heilbronn, K.strasse 103» und «Wussten Sie schon, dass in Heilbronn in der Praxis von Dr. Jürgen K. rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt werden?» Er wurde erstinstanzlich vom Amtsgericht Heilbronn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten auf Bewährung sowie zu einer Geldbusse von DEM 1100.– verurteilt.

• Bereits 1999 war dem Lebensrechtsverein MUT e.V. vom Landgericht Heidelberg rechtskräftig untersagt worden, Abtreibung als «Tötung» oder als «Kindesmisshandlung» zu bezeichnen, sofern dies unter Nennung des Namens eines bestimmten Arztes geschah, der in seiner Praxis Abtreibungen vornimmt.

• Die Stadt Kassel untersagte im März 2001 Lebensrechtlern eine «öffentliche Gebetsstunde» vor einer Abtreibungsklinik. Dieses Verbot wurde durch Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 22. März 2001 bestätigt. Das Gericht führte zur Urteilsbegründung u. a. aus, das Persönlichkeitsrecht der Frauen, die nach dem Schwangerschaftsabbruch die Klinik verlassen, von einer Begegnung mit den Gebetsteilnehmern verschont zu bleiben, habe Vorrang vor dem Recht der Versammlungsfreiheit der Lebensrechtler.
Quellen: Idea.de/factum/PCB/bg

Datum: 12.08.2002

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