Talk mit Ruth Baumann-Hölzle

Gehört mein Körper dem Staat?

Soll Organspende weiterhin eine freiwillige Entscheidung sein oder kann die Entnahme «automatisch» erfolgen, wenn man nicht dagegen ist? Florian Wüthrich spricht über diese heikle Frage mit der profilierten Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle.
Ruth Baumann-Hölzle (Bild: Livenet)

Soll die freiwillige Organspende zur Organentnahme – auch ohne Zustimmung – mutieren? Wenn es nach der Regierung geht, ja. Gegen diese vom Schweizer Parlament beschlossene «erweiterte Widerspruchsregelung» – eine Organentnahme ist möglich, wenn man sich nicht dagegen ausgesprochen hat – hat ein Komitee das Referendum ergriffen. Am 15. Mai kommt das Thema zur Abstimmung.

Entscheidende Grenzüberschreitung

Nach Ansicht der Ethikerin Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle, Mitglied des Referendumskomitees, geht es um einen sehr grundsätzlichen Paradigmenwechsel weg von der Integrität und Selbstbestimmung hin zu einer «Instrumentalisierung» des menschlichen Körpers. Die Frage der Grenzziehung beschäftigt sie seit Jahrzehnten: Wieviel Zugriffsmöglichkeiten gibt man dem Staat? Wann wird der Mensch zur Sache?

Es geht der Ethikerin nicht um die Frage der Organspende an sich – sie ist dafür und hat selbst einen Spendeausweis –, sondern um das grundlegende Menschenrecht der freien Verfügung über den Körper. Der Ansatz «Würde vor Nutzen» bringt Ihr Engagement auf den Punkt.

Man muss zuerst fragen

«Es ist eine Selbstverständlichkeit – wenn man von einem Menschen etwas nimmt, muss man zuerst fragen. Ich muss vor meinem Haus keine Tafel aufstellen: Bitte nicht einbrechen», so Baumann-Hölzle. «Das Recht, dass man mich fragt, wenn man etwas von mir will, ist eine der Grundvoraussetzungen für einen humanen Staat.» Dieses Grundrecht auf den eigenen Körper sei nicht zufällig nach dem 2. Weltkrieg verstärkt formuliert worden. Hier ist ein Damm gegen Totalitarismus aufgerichtet worden. Auch Menschen mit psychischen Krankheiten oder etwa Schwerverbrecher dürfen in unseren Gesellschaften nicht «zwangsbehandelt» werden, ausser in einem medizinischen Notfall. «Der Staat muss es sehr gut begründen, wenn er die Rechte eines Menschen einschränkt, ihn beispielsweise einsperrt.»

«Es kann nur ein freiwilliges Geschenk sein»

Baumann-Hölzle weiter: «Auch bei der Forschung am Menschen sind Ethik-Kommissionen nötig, um Menschen vor Instrumentalisierung zu schützen. Wenn der Staat über die Haut hinaus über den Menschen verfügen kann, dann wird es sehr heikel. Etwas nehmen, was der andere unter Umständen nicht geben will, ist eine gravierende Integritätsverletzung.» Die Ethikerin: «Eine Organspende ist ein Opfer, und ein Opfer kann man nicht einfordern – es kann nur ein freiwilliges Geschenk sein.»

Das Wissen, dass die Person der Organentnahme zustimmte, sei auch für die Arbeit der Entnahmeteams enorm wichtig. Und auch für die Person, die mit dem Organ weiterlebt, sei es sehr wichtig, zu wissen, dass das «Geschenk» gewollt war.

Ab wann gilt ein Mensch als tot?

Für die Organtransplantation müssen die Organe bekanntlich noch «leben». Dank der Intensivmedizin kann man heute das Leben verlängern, indem Menschen irreversibel «an der Maschine hängen». Dieses irreversible Koma wird als Hirntod bezeichnet – ein Zustand, der verlängert werden kann und so Organe frisch entnommen werden können. Das Sterben selbst ist ein längerer Prozess und kann nur in Annäherungen beschrieben werden – letztlich bleibt es ein Geheimnis.

Um so schwieriger, eine Grenze zu definieren, ab wann der Mensch tot ist. Ruth Baumann-Hölzle: «Das ist eine wichtige menschenrechtliche Frage. Inwiefern haben Menschen auf der Intensivstation noch die gleichen Rechte wie Gesunde? Nach der neuen Regelung haben sie klar nicht mehr die gleichen Rechte.» Ist entschieden worden, dass die Intensivmassnahmen keinen Sinn mehr machen, dürfen bei der Widerspruchsregelung Urteilsunfähige und noch nicht Hirntote für eine Organentnahme vorbereiten werden (ohne dass man ihren Willen wirklich kennt). Die Organe würden dann nach dem künstlich ausgelösten Herzkreislaufstillstand und dem Hirntod entnommen, führt die Etikerin weiter aus. «Hierfür werden die Hinrtoten wieder reanmiert, damit die Organe noch frisch sind. Damit der Hirntod aber nicht vielleicht doch wieder rückgängig gemacht werden kann, wird der Blutzufluss ins Hirn unterbunden.»

Die Angehörigen könnten bei dieser Regelung nur soweit intervenieren, als sie nachweisen müssen, dass der Hirntote zu Lebzeiten einer Organentnahme widersprochen habe; aber es gelte nicht mehr «im Zweifelsfall für meine Autonomie», sondern klar «Nutzen vor Würde». «Hier wird eine klare Linie überschritten. Die persönliche Entscheidung darf dem Menschen nicht abgenommen werden», so Baumann-Hölzle.

Werden bei der Widerspruchslösung mehr Organe gespendet?

Die Behauptung, dass es unter der neuen Lösung zu mehr Organspenden komme, ist laut Baumann-Hölzle statistisch nicht erhärtet. «Klar ist in allen Untersuchungen in verschiedenen Ländern: Es braucht gute Kommunikation in die Bevölkerung hinein, um die Bereitschaft zur Organspende zu fördern.»

Interessantes Detail: «Wenn es um Sexualstrafrecht oder um Abtreibung geht, wird die Freiheit, über den eigenen Körper zu bestimmen, sehr hoch geschätzt. Bei der Organentnahme soll das jetzt plötzlich in eine andere Richtung gehen – wir geben die Freiheit der eigenen Entscheidung auf», so Baumann-Hölzle. Darum: «Mich hat es extrem überrascht, dass eine freiheitlich-liberale Gesellschaft jetzt auf eine Widerspruchsregelung kommt.»

Sehen Sie sich hier den Livenet-Talk an:

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Datum: 25.04.2022
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

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