Kontext statt Klartext

Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit

Vieles ist in unserer Zeit komplexer geworden. Das ist nicht nur «gefühlte Wirklichkeit», das ist messbar. Um so grösser ist die Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Nach einfachen Lösungen und «klar stehenden» Personen, die «endlich Klartext» reden. Doch so sinnvoll die Sehnsucht nach Eindeutigkeit ist, so schwierig ist es, sich und andere darauf festzulegen.
Klartext Symbolbild

«Da gibt's nichts zu diskutieren. Das ist eindeutig. Punkt.» Sätze wie dieser fallen relativ selten im Mathematikunterricht, wenn es um das Ergebnis einer Rechenaufgabe geht. Sie sind eher der hilflose Schluss eines Gesprächs von Eltern mit ihren Teenagern. Oder das Festschreiben von Glaubenspositionen, wenn die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden zu anstrengend wird. Viele Autorinnen und Autoren haben sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt – einige kommen hier zu Wort.

So klar ist Klartext gar nicht

Eine eindeutige Aussage ist genau das, was sie vom Wort her beinhaltet: Eine Deutung – eine Perspektive. Die Theologin Maria Herrmann unterstreicht in ihrem Beitrag im Netzwerk von Fresh Expressions: «Spätestens die Monate dieser globalen Pandemie sollten deutlich gemacht haben, dass es so etwas wie Klartext nur zu einem Preis geben kann: Klartext vergisst, verdrängt und verschweigt andere Perspektiven. Und bloss weil ein Klartext die eigene Meinung oder Perspektive widerspiegelt, sollte man nie den Fehler machen, davon auszugehen, dass er alles abbildet.»

So bricht sie eine Lanze für den jeweiligen Kontext von Meinungen und Entscheidungen. Was gut für den einen ist, muss es für die andere nicht sein. Das gilt für Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrkräfte genauso wie im gemeindlichen Umfeld.

Selbst Gott ist mehrdeutig

Dass es unterschiedliche Meinungen und Ansätze im Umgang mit der Klimakrise gibt, hat sich inzwischen herumgesprochen. Aber wenigstens Gott selbst und sein Wort sind doch wohl eindeutig, oder? Leider – oder soll man sagen zum Glück – nicht. In seinem Essay «Die Illusion der Eindeutigkeit» hält Stefan Rehder fest, dass schon die ersten Christen durchaus zwiespältig waren. Petrus «war ein in Jesus leidenschaftlich Verliebter, ein feiger Verräter und doch der Fels, auf dem Christus seine Kirche errichtete. Man könnte meinen: Weniger Eindeutigkeit und mehr Ambivalenz sei kaum möglich.»

Und Gott? «Zumindest aus Sicht des Menschen darf Gott als ein, wenn nicht das Paradebeispiel für Mehrdeutigkeit gelten. Ein Gott in drei Personen. Einheit in Vielheit. Spätestens bei Gott ist der Wunsch des Menschen nach Eindeutigkeit endgültig zum Scheitern verurteilt», hält Rehder fest und ergänzt: «Das kann auch gar nicht anders sein.» Denn bereits Kirchenvater Augustinus wusste: «Wenn du es begriffen hast, ist es nicht Gott.»

Holzweg «Authentizität»

Wenn es schon keine übergeordnete Eindeutigkeit gibt, dann sollte man sie doch wenigstens in sich selbst finden, oder? Das Schlagwort dazu heisst authentisch. Doch obwohl der Begriff – gerade im christlichen Kontext – inflationär häufig verwendet wird, geht er an der Realität unserer komplexen Welt und Wahrnehmung vorbei. Erik Schilling schrieb darüber im evangelischen Magazin «Chrismon»: «Ein extrovertierter Mensch ist authentisch, wenn er sich extrovertiert benimmt. Ein italienisches Restaurant ist authentisch, wenn Optik und Essen so sind wie in 'echten' italienischen Restaurants. Die Zuschreibung 'authentisch' filtert die erbarmungslos auf uns einprasselnde Wirklichkeit, reduziert ihre Komplexität und ordnet sie in einfache Kategorien, die wir nicht hinterfragen müssen.» Damit unterstellt die Suche nach Authentizität erstens, dass wir sie als objektiv erkennen können, weil es sie zweitens als «wahren Kern» tatsächlich gibt. Diese Sehnsucht nach Wahrem und Eindeutigem analysiert Schilling als «im besten Fall naiv, im schlechtesten gefährlich».

Auf der Suche und in Bewegung bleiben

Scheinbar ist Eindeutigkeit kein selbstverständliches Ergebnis des Nachdenkens oder Glaubens. Sie lässt sich allerdings nicht verordnen. Und Schlagworte (das «christliche Abendland») oder Symbole (wie das Kreuz) werden nur durch den Kontext verständlich. Echte Schritte zu einem Miteinander in Gesellschaft und Gemeinde sind reden, nachfragen und mit Mehrdeutigkeit leben. Dann zeigt sich das, was Maria Herrmann so beschreibt: «Gott ist immer schon da und überrascht und wirkt.» Und seine Kirche kann jenseits irgendwelcher Positionen und scheinbarer Eindeutigkeiten «dieser Bewegung Gottes zu seinen Menschen folgen».

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Datum: 21.04.2021
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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