Prof. François Höpflinger

«Viele fühlen sich vom raschen Wandel überfordert»

Wenn die Gesellschaft der Innovation huldigt, geraten Traditionen ins Hintertreffen – bis eine Gegenbewegung sie hervorholt und poliert. Wir haben beim Familien- und Generationenforscher Prof. François Höpflinger nachgefragt.
Prof. François Höpflinger

wort+wärch: Mit unseren kulturellen Traditionen gehen wir anders um als die Vorfahren. Wie sehen Sie den Wandel? Bricht Wesentliches weg?
Prof. François Höpflinger: Moderne Leistungsgesellschaften sind stark auf Innovationen ausgerichtet und ständig Neues wird als wichtig erachtet, um die Gesellschaft technisch und wirtschaftlich zu entwickeln. Die Hochwertung des Neuen zeigt sich darin, dass viel in Forschung, aber auch in 'neue Glaubensinhalte', neue Kulturinhalte, investiert wird. Während in früheren Zeiten jemand begründen musste, wieso man etwas ändern sollte, muss man heute begründen, wieso man nichts ändern will.

In den letzten Jahrzehnten haben kulturelle Traditionen – als Gegenbewegung – jedoch wieder an Bedeutung gewonnen, allerdings häufig nicht als Teil des Alltagslebens, sondern als Teil einer modernen Freizeitgestaltung, wo zum Beispiel Mittelaltermärkte, Dorffeste, alte Handwerkskünste usw. wieder aufgebaut werden. In der Forschung ist dieses Phänomen als sogenannte 'Heritage-Industrie' bekannt (etwa wenn alte Gebäude restauriert werden, aber einen anderen Zweck erhalten). Aktuelles Beispiel aus Bern: das ehemalige Burgerspital wurde restauriert und zu einem Generationenhaus umgewandelt.

Der christliche Glaube scheint für die Lebensführung grosser Teile der Bevölkerung nicht mehr relevant. Wie zeigt sich diese Entwicklung bei den Generationen und in den Verhältnissen zwischen ihnen?
Unterschiede der Glaubensprägung sind sicherlich Teil der Unterschiede zwischen den Generationen, allerdings zeigen sich bei genauer Betrachtung weniger Unterschiede in den grundlegenden Glaubensinhalten als in konkreten religiös-kirchlichen Ritualen. Junge Menschen sind oft sehr an religiösen Themen interessiert, sie möchten sich aber nicht vorschreiben lassen, was sie zu glauben haben. Alte Menschen sind teilweise noch stark von früheren Glaubensregeln geprägt.

Der grösste feststellbare Unterschied zwischen den Generationen zeigt sich bei Kirchenbesuchen: Junge Menschen gehen deutlich seltener in die Kirche, aber sie sind deswegen nicht deutlich weniger religiös als ältere Menschen.

Welche Folgen hat der religiöse Traditionsbruch für die Gesellschaft?
Der religiöse Traditionsbruch hat Konfliktlinien zwischen den Konfessionen, die früher zentral waren, aufgelöst. Religiöse Themen bestimmen immer weniger die gesellschaftlichen Entwicklungen. In einem gewissen Sinne sind religiöse Ansichten zur Privatsache geworden. Einerseits wirkt der Traditionsverlust sozial entlastend: Religiöse Konflikte – welche die Schweiz jahrhundertelang geprägt haben – sind weitgehend verschwunden.

Auf der anderen Seite führt der Traditionsbruch aber auch zu einer verstärkten Verunsicherung breiter Teile der Bevölkerung, die sich vom raschen Wandel der Gesellschaft überfordert fühlen. Diese Verunsicherung kann zu fremdenfeindlichen Abwehrhaltungen und Überbetonung harmonischer Bilder zur Schweiz von früher beitragen.

Was sind für Sie als Generationenforscher die Folgen, wenn die Bibel weniger gelesen wird, ihre Geschichten weniger erzählt und bewegt werden?
Es fällt generell auf, dass man heute nicht mehr davon ausgehen kann, dass verschiedene Menschen die gleichen Bücher gelesen haben und die gleiche Musik kennen. Wenn jede Gruppe bzw. jede Generation ihre eigene Kultur aufweist, wird es wichtiger, diese Generationenunterschiede durch gezielte Generationenprojekte zu überbrücken. In einer Gesellschaft, in der junge Menschen ganz anders denken, reden und andere Kommunikationsmittel benützen als ältere Personen, werden organisierte Generationenbegegnungen zu einem zentralen Kitt einer Gesellschaft.

Gibt es christliche Werte, die für die Zukunft unseres Gemeinwesens erforderlich und entscheidend sind?
Aus meiner Sicht sind viele grundlegend christliche Werte – in säkularisierter Form – in unser Rechtssystem eingebaut, etwa Gleichheit aller Menschen, Grundprinzip der Menschenwürde, Betonung individueller Menschenrechte. Für die Zukunft Europas ist es zentral, dass diese grundlegenden (ursprünglich christlich-religiösen) Werthaltungen gegenüber fundamentalistisch-religiösen Gruppen verteidigt werden. Zentral ist auch eine Stärkung des Prinzips der religiösen Toleranz und einer grundsätzlichen Trennung von Kirche und Staat.

Wie reagieren Sie auf die These, dass ein säkulares Werte-Set ohne Anker in der christlichen Tradition und ohne Auseinandersetzung mit ihr nicht trägt?
Nach meiner Meinung ist auch die heutige moderne Gesellschaft – durch die Betonung von Menschenrechten und Menschenwürde – weiterhin in der christlichen Wertetradition verankert, wenn auch formell losgelöst von religiösen Symbolen. Unsere grundlegende demokratische Rechtsstruktur ist somit weiterhin in der christlichen Tradition der Aufklärung verankert.

Im Umbruch möchten viele an frühere Lebensformen und Genüsse anknüpfen (siehe erfolgreiche Zeitschrift 'Landliebe'). Wie kommentieren sie das?
Die verstärkte Betonung traditioneller und auch lokaler Aktivitäten, Genüsse und Rituale ist eine Gegenbewegung gegenüber einer überbordenden globalen Wirtschaft, die viele Menschen zu Innovationen zwingt, welche ihren Bedürfnissen wenig entsprechen. Die heutige Geschwindigkeit des technisch-wirtschaftlich-sozialen Wandels überfordert Menschen, Politik und Ökologie. In diesem Sinne sind solche Gegenbewegungen eine gesunde Reaktion.

Ein eklatanter Bruch: Schweizer Paare, gerade sozial gut gestellte, haben seit den 1970er-Jahren viel weniger Kinder. Grosskinder aber werden hoch geschätzt. Was sagen Sie dazu?
Der Hauptgrund dafür, dass vor allem gut gebildete Personen und Paare keine oder nur wenig Kinder zur Welt brachten, waren (und sind) familial-berufliche Unvereinbarkeiten. In den letzten Jahren haben vor allem Städte, welche die familienergänzende Kleinkinderbetreuung ausgebaut haben, höhere Geburtenraten erlebt.

Enkelkinder sind für Grosseltern aus zwei Gründen wertvoll: Einerseits ist damit die Zukunft der Familie im weitesten Sinne garantiert und zweitens erlauben Enkelkinder älteren Menschen, wieder an frühere Lebens- und Familienphasen anzuknüpfen. Da Kinder im allgemeinen Rituale lieben, können sich hier intergenerationelle Allianzen bilden. Eine religionsbezogene Studie hat beispielsweise gezeigt, dass Enkelkinder und Grosseltern gemeinsam traditionelle Weihnachtsfeiern durchsetzen.

Was raten Sie Grosseltern?
Eine gute Beziehung zu Enkelkindern setzt immer auch eine gute Beziehung zu den eigenen erwachsen gewordenen Kindern voraus. Grosseltern müssen somit ihre Töchter und Söhne als Erwachsene akzeptieren. Eine intensive Beziehung zwischen den drei Generationen funktioniert am besten, wenn sich Grosseltern engagieren, aber nicht einmischen. 

Worauf sollten junge Eltern angesichts des Um- und Abbruchs der Traditionen achten?
Zeiten von Umbrüchen – technischer oder kultureller Art – sind immer auch Zeiten, wo wechselseitige Toleranz zwischen den Generationen zentral wird. In Zeiten von Umbrüchen und Unsicherheiten wird es zentral, bei der Erziehung und Begleitung von Kindern weniger spezifische Erziehungsprinzipien zu vermitteln als allgemein ihr Lebensvertrauen und ihre Persönlichkeit so zu fördern, dass sie gut mit rasch veränderbaren gesellschaftlichen Umständen umgehen können. Das Grundprinzip 'fördern und fordern' scheint unabhängig von den Zeitumständen das beste Erziehungsprinzip zu sein.

Prof. François Höpflinger (67), Soziologe, forscht und berät zu Familien- und Generationenfragen. Er war Titularprofessor an der Uni Zürich. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und vier Enkelkinder.

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Datum: 04.01.2016
Autor: Peter Schmid
Quelle: wort+wärch

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