Holocaust-Überlebende mahnen:

«Dieses schreckliche Kapitel darf nicht vergessen werden»

Unter dem Motto «Wer überlebt, der erzählt» nahmen einige der letzten Überlebenden des Holocaust am Sonntag im Rahmen des Gottesdienstes der ref. Kirche Wattenwil BE die Zuhörer in ein wenig bekanntes Kapitel dieser dunklen Epoche mit hinein.
Eine Gruppe von Holocaust-Überlebenden aus den Ostländern am letzten Sonntag in Wattenwil (2.v.r.: Dr. A. Heistver)

«Jeder kennt die Konzentrations- und Vernichtungslager wie Auschwitz, Treblinka oder Birkenau, Tausende von Menschen aus der ganzen Welt besuchen sie jährlich. Viel weniger bekannt ist, dass unter der deutschen Besetzung in Russland hunderttausende von Juden getötet worden sind; sie wurden einfach in Dörfern oder Wäldern hingemetzelt.» So begann einer der Holocaust-Überlebenden, Dr. Alexey Heistver, den eindrücklichen Vortrag am letzten Sonntag in der Kirche Wattenwil BE. «Die Mörder waren sehr einfache Leute, die in der Nazi-Ideologie indoktriniert waren. Bis heute fragt man sich ja, wie das deutsche Volk, das eine so grosse Kultur hatte, so einfach mit Hitler gehen und ihm nachfolgen konnte.»

Bis zum Ende der 1980er-Jahre war für die deutsche Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, was in den Jahren 1941-1944 mit der jüdischen Bevölkerung östlich der polnisch-deutschen Grenze geschehen war. Dort, in den sowjetischen Territorien, die von der Wehrmacht und deren Verbündeten besetzt wurden, d.h. in den Ostseeländern, in Weissrussland, in der Ukraine und in Moldawien wie auch in den südlichen und zentralen Gebieten Russlands waren etwa 3 Millionen Juden, darunter etwa 750'000 Kinder zurückgeblieben, die aus verschiedenen Gründen nicht evakuiert werden konnten. Sie blieben wehrlos und gerieten unter die Macht des nazistischen Besatzungsregimes.

Nachbarn wurden zu Mördern

«Ich lebte in Kaunas im Baltikum. In unserer Stadt waren von 120'000 Einwohnern 40'000 Juden. Von denen sind nur 2'000 am Leben geblieben. Zuerst wurden sie im Ghetto zusammengetrieben, dann wurden sie in Konzentrationslager deportiert – weit weg im Osten, damit die sensiblen deutschen Bürger möglichst nichts davon erfuhren», berichtete Heistver. «Da war zum Beispiel eine jüdische Familie, die eine Autowerkstatt und immer gute Beziehungen zu allen Nachbarn hatte. Als die deutschen Truppen über die Grenze kamen, änderte sich alles. Eines Tages stürmten die Nachbarn die Wohnung – sie seien jetzt die Herren, alles gehöre ihnen. Sie töteten den Vater und die Mutter mit einem Hammer und warfen die drei kleinen Mädchen hinaus in den Wald. Eine hat überlebt und mir ihre Geschichte erzählt. Im Machtvakuum nach dem Rückzug der Roten Armee haben Einheimische mit Enthusiasmus Tausende von Juden – es waren meistens alte Menschen, Frauen und Kinder – noch vor dem Eindringen der Wehrmachttruppen und der Strafkommandos der SS-Truppen ausgeraubt und ermordet.» Wikipedia bestätigt: «Sofort nach Einmarsch der Wehrmacht kam es zu von den deutschen Behörden geförderten Massenmorden an Juden auf offener Strasse.»

Experimente im Ghetto

Heistver selbst wurde im Ghetto von Kaunas geboren. Von seinen Eltern getrennt, wurde er in eine Baracke für medizinische Experimente gebracht, wo er 2 ½ Jahre lebte. In dieser Baracke betrieb ein «neugieriger Arzt» Experimente nicht mit Mäusen, sondern mit Kindern. Ihm «amputierte» dieser Arzt das Gaumenzäpfchen, um herauszufinden, ob er dann noch sprechen könnte. Bis zu seinem neunten Lebensjahr konnte er nicht reden, und die Sprache wurde ihm «wie durch ein Wunder» erst nach mehreren komplizierten Operationen wieder geschenkt. «Tag für Tag kam der Arzt und nahm sich ein Kind für seine Experimente mit», erinnert sich Heistver.

Hoffnungen und Träume

Obwohl in den Ghettos und Lagern jeder Häftling um sein eigenes Überleben kämpfte, gab es in dieser grausamen Welt auch Platz für Hoffnung und Träume. Davon zeugen Notizen und Tagebücher, die in grosser Hast geschrieben und an niemanden adressiert wurden. Sie wurden ganz zufällig nach vielen Jahren entdeckt. Viele Häftlinge hegten die Hoffnung, dass «jemand überleben wird. Überleben trotz alledem. Und wer überlebt, muss erzählen, dass das Wirklichkeit war. Damit sich das nicht wiederholen kann.» Der Zettel mit diesen Worten wurde im Mantel eines kleinen Mädchens gefunden, das in Auschwitz verbrannt wurde.

Es gibt nur noch etwa 550-600 Überlebende der Ausrottungskampagne in den damaligen Ostgebieten. Die Besucher im Gottesdienst in Wattenwil waren Vertreter des Vereins «Phoenix aus der Asche», der sich dafür einsetzt, dass Immigranten aus den postsowjetischen Staaten, die im Kindesalter den grausamsten Straftaten der Nazis unterworfen waren, in Deutschland endlich in ihrem Status als «vom Naziregime verfolgte Personen» anerkannt werden. Heistver: «Die Zahl der Holocaust-Überlebenden verringert sich rasch. Wir glauben, dass die Gerechtigkeit irgendwann kommt … Es wäre bedauerlich, wenn es dann zu spät ist.»

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Datum: 04.11.2015
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

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