Der lange Schatten von 9/11

Das Kino und das Trauma der Twin Towers

Flammen schlagen aus dem World Trade Center in New York, ein zweites Flugzeug fliegt in den Südturm, bald darauf fallen die Zwillingstürme wie Kartenhäuser in sich zusammen. Die Bilder haben die Filmwelt der folgenden Jahre geprägt.
Die Filmwelt wurde von der Tragödie des World Trade Center geprägt.

Nach 9/11 sollte im US-amerikanischen Kino nichts mehr so sein wie zuvor. In den Wochen nach den Anschlägen wurde Mässigung gefordert. An Hollywood erging eine Order, die Produktion weiterer Desasterszenarien zu unterlassen.

Kurze Zurückhaltung

Für kurze Zeit zeigten die Ereignisse jenes Tages tatsächlich Wirkung. Andrew Davis Thriller «Collateral Damage», in dem ein von Arnold Schwarzenegger gespielter Feuerwehrmann Rache an den Terroristen übt, nachdem seine Familie bei einem Anschlag ums Leben gekommen ist, wurde vier Monate zurückgehalten und kam erst im Februar 2002 in die Kinos. Andere Projekte wurden ganz eingestellt. Allerdings hielt diese Abstinenz nicht lange an.

Veränderte Wirkung

Action- und Katastrophenspektakel sind nicht verschwunden, ganz im Gegenteil: Sie sind gerade in den vergangenen zehn Jahren mit Vehemenz in die Kinos zurückgekehrt. Aber sie haben nun eine andere Wirkung; ihre Fantasien sind fest in der Realität verankert. Genau damit spielen etwa Christopher Nolan, dessen «Batman»-Filme auch Allegorien auf die Welt nach dem Fall der Türme sind, oder Steven Spielberg in «Krieg der Welten», mit den immer wiederkehrenden Bildern der leeren Kleidungsstücke der Toten, die auf die Erde nieder regnen.

Tod akzeptieren

Trauern und Tod als die eine grosse Konstante der menschlichen Existenz akzeptieren, dabei zugleich aber auch das Leben und seine stete Erneuerung feiern - das hat sich als zentrales Motiv des Post-9/11-Kinos erwiesen. Es erfüllt Filme wie «World Trade Center», Oliver Stones Hommage an die New Yorker Polizisten, die unter den Trümmern der Türme begraben wurden, bevor sie überhaupt jemanden retten konnten, ebenso wie «Die Liebe in mir», Mike Binders Drama eines Mannes, der seine Familie in einem der Flugzeuge verlor, und Sharon Maguires «Blown Apart», der von einem fiktiven Anschlag auf ein Londoner Fussballstadion erzählt.

Islamischer Schatten

Paul Greengrass gibt in «Flug 93» mit seiner filmischen Rekonstruktion der Ereignisse, die im ungeplanten Absturz der vierten entführten Maschine gipfelten, ein politisches Statement ab. Aus dem Dunkel erklingt die Stimme eines Mannes, der etwas auf Arabisch rezitiert. Es ist die Stimme eines der Terroristen, die wenige Stunden später «Flug 93» in ihre Gewalt bringen und in Richtung Washington umlenken. Die Botschaft dieser ersten Bilder könnte nicht eindeutiger sein: Der Islam ist das Fremde und Dunkle, das sich an jenem Tag über die Welt gelegt hat und seither nicht vertrieben werden konnte. Greengrass instrumentalisiert seinen Film, wie es Michael Moore mit seiner gegen die Wiederwahl Georg W. Bushs gerichteten Doku «Fahrenheit 9/11» tat: Hier wird ein wehrhafter Westen gefordert und das mit jeder Einstellung und jedem Schnitt.

Gut oder Böse

Seit «9/11» scheinen die Fronten klar gezogen: Auf der einen Seite die USA und der Westen, auf der anderen die islamistischen Terroristen und die Schurkenstaaten, die sie unterstützen. Doch in Wahrheit sind die Verhältnisse natürlich viel komplizierter.
 
Konsequenterweise hat mit Filmen wie Stephen Gaghans «Syriana» (2005) und Ridley Scotts «Der Mann, der niemals lebte» eine neue Unübersichtlichkeit in den Politthriller Einzug gehalten: Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind verschwunden, der Zweck heiligt die Mittel und die wiederum entheiligen noch den letzten moralischen Rest, der Amerika geblieben ist.
 
Auch das Melodrama, das immer schon von Trauer und Verlust erzählt hat, steht mittlerweile ganz im Zeichen jenes Tages. Natürlich kann man sagen, dass Mike Binder im Film «An deiner Schulter» einfach die Geschichte einer Ehefrau und Mutter erzählt, deren Mann plötzlich verschwunden ist. Doch die lange vor allem von Hysterie und Wut geprägte Stimmung des Films, die erst nach und nach umschlägt, findet in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts einen eigenen Resonanzboden.

Von Versöhnung träumen

Melodramatisch und ganz eigen ist zudem ein Film, der den Blick zur Abwechslung einmal umkehrt. «My name is Khan and I am not a terrorist», das ist die Botschaft, die der aus Indien stammende Moslem Rizvan Khan für die Amerikaner hat. Der am Asperger-Syndrom leidende Immigrant, leidenschaftlich gespielt vom Bollywoodstar Shah Rukh Khan, erfährt nach den Anschlägen des 11. September die USA als ein von Zorn erfülltes und von Rassismus geprägtes Land. Immer wieder werden er und seine Familie Opfer von Vorurteilen und tätlichen Angriffen; Khan macht sich auf den Weg, dem Präsidenten persönlich sein Credo zu übermitteln.
 
Der Film von Karan Johar leistet Trauer- und Wiederaufbauarbeit mit den Mitteln des grossen, auch unterhaltenden Publikumskinos. Und beweist, dass Kino nicht nur Desaster vorführen, sondern auch von einer Versöhnung träumen kann.

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11. September 2011

Datum: 09.09.2011
Quelle: Livenet / epd

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