«Es ist ein Akt der Liebe, wenn wir jetzt Rücksicht nehmen»
pro: Herr Müller, Sie
interessieren sich als Arzt für die Geschichte der Medizin. Das liegt
nahe. Warum ausgerechnet auch für Pandemien?
Georg
Müller: Das liegt in der Familiengeschichte. Mein Grossvater war
Marinesoldat und hat nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Pandemie
in einem japanischen Gefangenenlager miterlebt und überlebt. Von den
Gefangenen infizierten sich etwa 900 mit einem Virus und erkrankten
schwer, viele der Kriegsgefangenen starben an den Folgen. Es war die
Spanische Grippe, wie man heute weiss, die damals weltweit zwischen 50
und 100 Millionen Menschenleben gekostet hat.
Zu
Beginn des Jahres, als sich hier Meldungen über ein Virus in China in
den Medien verdichteten, haben Sie in einem Zeitungsinterview
eindringlich vor einer bevorstehenden Pandemie gewarnt. Was hatte Sie
alarmiert?
Ich kannte Wuhan, weil
ich 2011 dort mit Ärzten der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft für
Katastrophen- und Rettungsmedizin war. Das Krankenhaus der Stadt hatte
damals rund 7'000 Betten und ich konnte mir einen Eindruck verschaffen,
wie die medizinische Versorgung in der Stadt war. Die war 2011 auf einem
sehr hohen Level. Als ich dann die Nachrichten sah über die vielen
Erkrankten und auch die Toten von Anfang an, war ich sofort alarmiert.
Kann man den Zahlen aus China trauen?
Ich
würde sagen: Ja. Das hätten die Behörden nicht verbergen können, wenn
wieder Massen von neuen Fällen aufgetreten wären. Das hätte sich in der
heutigen Zeit rumgesprochen. Heute können Menschen von überall aus
berichten. Das hätte man gemerkt.
Wir
haben jetzt in Deutschland wieder einen Lockdown, um die Ausbreitung
des Virus einzudämmen. In den Weihnachtstagen gab es wieder vermehrt
Kontakt. Es wurden Rufe nach Gottesdienstverboten laut. Was halten Sie
davon?
Gottesdienste haben dort,
wo im Sommer in geschlossenen Räumen gesungen wurde, Ausbrüche
hervorgerufen. Menschen atmen in der Minute etwa 12 bis 18 Mal ein und
aus. Wenn sich in einem geschlossenen Raum ein Spreader aufhält und der
dann auch noch singt, dann entsteht innerhalb von kurzer Zeit eine
Viruslast in dem Raum, die eine Infektion begünstigt. Heute ist
gemeinsamer Gesang in den Gottesdiensten verboten. Unter bestimmten
Voraussetzungen konnte man zwar den Weihnachtsgottesdienst feiern, aber
ich sage mir: Gib dem Virus keine Chance. «Stay at home» ist der beste
Schutz, um dieses Coronavirus nicht zu verbreiten. Das habe ich die
letzten Wochen getan und Gottesdienst zu Hause gefeiert. Und was das
Singen betrifft, halte ich mich an Kolosser Kapitel 3, Vers 16. Da steht: «Lasst das
Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in
aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt
Gott dankbar in euren Herzen.» Ich singe im Herzen. Das ist das
Entscheidende.
Den anderen, meinen Nächsten, auch durch mein Fernbleiben zu schützen, das ist aus meiner Sicht ein Akt der Nächstenliebe. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», das ist so eine wichtige Blaupause für unser Verhalten. Es ist ein Akt der Liebe, wenn wir jetzt Rücksicht nehmen und dafür sorgen, dass das Virus sich nicht verbreitet. Daran sollten wir Christen denken, wenn wir in den Familien zusammenkommen. Wir müssen damit rechnen, dass über Weihnachten viele zu ihren Eltern reisten und in den Familien zusammenkamen – und dabei keine Masken trugen.
Die «Christen im Widerstand» denken da ganz anders als Sie.
Es
ist ein Skandal, dass wir als Christen so uneins sind. Wir feiern an
Weihnachten die Geburt von Jesus Christus, der uns aus Liebe gerettet
hat. Das Wichtigste an Weihnachten ist doch nicht die Familie zu feiern,
sondern die Geburt des Retters. Da muss uns doch diese Retterliebe
anstecken, die wir aufgrund von Weihnachten erleben dürfen. Gott ist
Mensch geworden, damit Menschen gerettet werden. Wenn ich als Christ
dazu beitrage, dass durch mein Fehlverhalten andere krank werden,
vielleicht sogar daran sterben, dann hat es mit dieser Liebe nichts zu
tun. Da hilft auch die ganze Rechnerei mit Vergleichszahlen und so
weiter nicht. Auch das Gerede, dass wir in einem totalitären Staat
lebten, mag ich nicht mehr hören. In Wuhan war im Lockdown keiner mehr
auf der Strasse. Und das ist immerhin eine Neun-Millionenstadt. Es
herrschte Ausgangssperre. Es durfte auch niemand demonstrieren. Wer
meint, wir hätten hier totalitäre Zustände, verkennt unsere äusserst
komfortable Lage. Die Behörden in China haben – was in einer Demokratie
natürlich sehr, sehr schwer umzusetzen ist, wie wir ja an den
Diskussionen hier sehen – einen brutalen Lockdown und
Quarantänemassnahmen durchgesetzt. Das wäre hier nicht denkbar.
Womit rechnen Sie nach den Feiertagen?
Ich
gehe davon aus, dass die Infektionszahlen nochmal steigen werden, weil
Menschen sich eben nicht an die Abstands- und Hygiene-Regeln halten oder
beim Familienfest keine Maske tragen. Wir haben ohnehin trotz Lockdown
seit einer Woche kaum einen Rückgang der Zahlen. Jetzt kommt noch diese
Mutation des Virus dazu, die in England aufgetreten ist. Ob das noch
gefährlicher ist, wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen.
Das sieht düster aus...
Jetzt gibt es einen Impfstoff. Das gibt doch Hoffnung. Jeder sollte sich impfen lassen.
Es gibt auch Hoffnung von der historisch-medizinischen Seite her gesehen. Bei der Spanischen Grippe hat das Virus und seine Mutationen an Aggressivität verloren. Das konnte man bislang über jede Pandemie so sagen. Das jeweilige Virus existiert zwar weiterhin, schwächt sich aber ab und die Infektion nimmt dann nicht mehr so einen tödlichen, aggressiven Verlauf. Und dann kommt das Frühjahr mit den steigenden Temperaturen, sodass wir im Sommer nur noch sehr wenige Neuinfektionen verzeichnen werden.
Das spricht aber gegen die Impfung.
Das
haben Sie sehr gut erkannt. Weil derzeit die Temperatur anhaltend nicht
unter null Grad fällt, wird die Welle bleiben, bis im Frühjahr die
Temperatur steigt. Aber damit wird das Virus nicht aus der Welt sein.
Aktuell impfen wir Ärzte wieder gegen die Spanische Grippe, das
H1N1-Virus, das 1918 Millionen von Opfenr forderte und auch der Erreger der
Grippewelle 2018 war. Weil über Jahre nicht gegen das Virus geimpft
wurde, hat sich der Erreger wieder enorm ausgebreitet. Wer sich jetzt
gegen Covid-19 impfen lässt, schützt sich und verhindert, dass sich das
Virus nach dem Sommer wieder so stark ausbreitet wie jetzt.
Wie soll sich der verhalten, der wegen der möglichen anstehenden Impfung unsicher ist?
«Fragen
Sie Ihren Arzt oder Apotheker.» Das ist nicht arrogant gemeint. Fragen
Sie Ihren Arzt, der hat Ahnung davon und kennt mögliche individuelle
Risiken bei seinen Patienten.
Zur Person:
Der Allgemein- und Rettungsmediziner Georg Müller aus
Solms bei Wetzlar war über Jahre medizinischer Direktor von humedica,
einer Hilfsorganisation, die weltweit humanitäre Hilfe und medizinische
Versorgung nach Katastrophen leistet.
Zum Originalartikel auf PRO.
Zum Thema:
Gebet im Krankenhaus: Dr. Michael Haglund: Ein Arzt, der betet
Corona und Schutz des Lebens: Wer darf leben und wer nicht?
Christliche Viren verbreiten sich: Achtung, fromme Corona-Fake News!
Datum: 02.01.2021
Autor: Norbert Schäfer
Quelle: PRO Medienmagazin