Gespräch mit Max Schläpfer, Präsident des VFG

Die „dritte Kraft“ in der Schweizer Kirchenszene

Seit Januar leitet Max Schläpfer, Pastor der Pfingstgemeinde Bern und Präsident der Schweizerischen Pfingstmission SPM, den Deutschschweizer Freikirchenverband VFG. Livenet hat sich mit ihm über die Stossrichtung des VFG, der 14 Freikirchen verbindet, und die Kirchenszene unterhalten.
Max Schläpfer
Max Schläpfer

Livenet: Max Schläpfer, was haben Sie sich an der Spitze des VFG, des Verbands evangelischer Freikirchen und Gemeinden in der Schweiz, vorgenommen?
Max Schläpfer: Wir haben die Zielsetzungen im Vorstand, wo ich bereits mitwirkte, seit Jahren gemeinsam formuliert. Nun wollen wir darauf hinarbeiten, dass die Freikirchen auch in der kirchenpolitischen Landschaft der Schweiz stärker wahrgenommen werden. Wir vertreten die Interessen der Freikirchen etwa gegenüber dem Evangelischen Kirchenbund SEK, mit dem wir regelmässig Gespräche führen. Wir wollen neben SEK und Bischofskonferenz sozusagen zur „dritten Kraft“ werden. Die Behörden in unserem Land sollen wissen, dass es nicht nur die katholische und die reformierten Kirchen gibt, sondern auch Freikirchen, die zum Leben der Gesellschaft beitragen.

Freikirchliche Christen denken regelmässig von der einzelnen Person her. Im Gebet treten sie vor allem für einzelne Menschen ein. Während die Freikirchen auf einzelne gute Leute setzen, versuchen die Landeskirchen viel stärker auch Strukturen zu beeinflussen. Möchten Sie daran etwas ändern?
Eine interessante Frage. Strukturen können nur mit verwandelten Menschen verändert werden. Der Ansatz der Freikirchen ist: Veränderte Menschen schaffen eine andere Situation. Das ist in jeder örtlichen Gemeinde so: Je mehr feurige Christen eine Gemeinde zählt, desto mehr werden sie für die Vermittlung des Evangeliums tun.

Es scheint, dass die lokalen Freikirchen in unserem Land strukturell wenig bewegen können. Ihre Aufgabe ist, am Ort zu arbeiten, Menschen zu Jesus und in den Dienst an anderen zu führen. Der VFG bringt die Stimme dieser vielen Gemeinden in den Strukturen unserer Gesellschaft zur Geltung.

Sie wollen nicht nur mit den Kirchenleitungen im Gespräch sein, sondern auch in die Öffentlichkeit gelangen. Dazu dienen auch Vernehmlassungen des Bundes.
Wir wollen unsere Meinung sagen; dabei geht es nicht darum, ständig in den Medien vorzukommen. Bei mehreren Vernehmlassungen, die uns wichtig waren, haben wir mit Juristen eine Stellungnahme erarbeitet. Wie mein Vorgänger Samuel Moser in einem idea-Interview dargelegt hat, hat der Bundesrat gerade in der Frage, was Sekten sind und wie der Staat auf diesem Feld agieren soll, weite Teile der VFG-Stellungnahme übernommen. Sie trug dazu bei, dass Freikirchen in unserem Land ungehindert weiter arbeiten können.

Ein Institut für Sozialethik, wie es der SEK betreibt, wird der VFG nicht so bald schaffen...
Sicher nicht. Wir haben weder die Finanzen noch die Personen dafür.

Wo liegen weitere Prioritäten des Freikirchenverbandes unter Ihrer Leitung?
Wir wollen die christlichen Werte in unserem Land stärken. Mit Politikern, die sich dafür einsetzen, pflegen wir regelmässig Kontakt, damit sie merken, was uns bewegt, und wir hören, was sie bewegen.

Auf Bundesebene – und auch in den Kantonen?
Der VFG ist gesamtschweizerisch organisiert. Wir beschränken unsere Aktivitäten auf die nationale Ebene. Aber die Frage ist interessant, denn die Schweiz funktioniert ja von den Kantonen her. Wir haben uns schon überlegt, ob wir kantonale Sektionen ins Auge fassen sollten. Bestimmte Themen werden bloss (oder schwerpunktmässig) in einzelnen Kantonen abgehandelt. Wenn wir uns als Deutschschweizer VFG bei der Zürcher Regierung wegen eines Lehrmittels für den Religionsunterricht melden, richten wir vielleicht weniger aus, als eine Zürcher VFG-Sektion es könnte.

Kantonale Sektionen wären von Nutzen, sagen Sie. Geht der VFG nun daran, sie anzuregen? Sagen Sie den Freikirchen, dass sie sich in den Kantonen zusammensetzen sollen?
Wir haben das erst angedacht, aus der Wahrnehmung heraus, dass hier Gelegenheiten verpasst werden. Wir müssen realistisch sein. Die Freikirchen sind sehr ungleich in den Kantonen verteilt. Im Kanton Bern gibt es sehr viele, im Wallis ganz wenige. Wir sollten nichts forcieren. Spruchreif ist ein Beschluss noch nicht.

In der nationalen Öffentlichkeit aufgetreten ist der VFG mit den Christustagen. Diese Grossveranstaltungen finden aber nur alle 5-7 Jahre statt, so dass sie kein Image bilden...
Damit kommen wir von den strukturellen Fragen, mit denen wir uns befassen müssen, zu den geistlichen Schwerpunkten, die dem VFG eigentlich am Herz liegen. Es ist super, dass es mehrere Christustage gegeben hat. Für Juni 2004 bereiten wir einen weiteren vor. Die Initiative dafür ging von der SEA, der Schweizerischen Evangelischen Allianz, und uns aus. Wir sind überzeugt, dass Christustage eine geistliche Bedeutung für unser Land haben.

Im kleinen Rahmen haben wir am 5. April dieses Jahres zum ersten Mal als VFG einen Gebetstag für Leiter veranstaltet. Denn die Pastoren und Prediger beschäftigen sich alle mit denselben Themen: Gemeindebau und Mission, Dienst an den Menschen und die Förderung christlicher Werte in der Gesellschaft.
Ich kann mir auch vorstellen, dass wir einmal einen Freikirchentag in der Schweiz organisieren. Es täte den Freikirchen gut, zusammenzustehen, und würde ihre Identität stärken.

Wie eng sind die Freikirchen der Deutschschweiz mit denen des Welschlands verbunden?
Die FREOE (Fédération romande des églises et oeuvres évangéliques) ist die welsche Entsprechung zum VFG. Sie ist auch in der Trägerschaft des Christustages vertreten. Im Tessin hat sich so etwas wie eine VFG-Sektion gebildet. Wir pflegen gesamtschweizerisch Kontakte. Ich gehe davon aus, dass sie in nächster Zeit verstärkt werden.

In der Deutschschweiz gibt es grosse Kontraste, nicht nur zwischen Bern und Wallis. Basel, Zürich, die Ostschweiz, das Berner Oberland – sollte man von Subszenen reden? Wie intensiv beeinflussen sich die Regionen gegenseitig?
Das ist für uns nicht leicht feststellbar. Wir arbeiten mit den Leitern der einzelnen Freikirchen. Der VFG hat keinen direkten Kontakt zur Basis. Wenn sich die Vertreter der 14 Freikirchenverbände treffen, reden wir über manches. Aber ins regionale Geschehen wollen wir uns bewusst nicht hineingeben. Wir nehmen Signale aus den Regionen wahr, aber intervenieren nicht.

Der VFG wächst: Die Freien Charismatischen Gemeinden sind in den letzten Jahren als weiterer Verband aufgenommen worden, auch Vineyard. Bringen die neuen Mitglieder neue Dynamik?
Es ist unser Bestreben, dass möglichst alle freikirchlichen Gemeindeverbände (nicht einzelne Gemeinden) im VFG vertreten sein können. Das gibt uns ein grösseres Gewicht, wenn wir unsere Ziele umzusetzen suchen. Vineyard und die Freien Charismatischen Gemeinden wurden aufgenommen; mit einem weiteren Verband laufen Verhandlungen. Zu anderen Gemeinschaften, die auch zur freikirchlichen Szene gehören, haben wir Kontakt aufgenommen.

Natürlich bringen neue Bewegungen frischen Wind gegen das Althergebrachte. Manchmal auch Vorstellungen, die nicht immer einfach und manchmal nicht kompatibel mit den VFG-Zielen sind. Da müssen wir uns erst wieder finden und bestimmen, was zu unseren Zielsetzungen gehört und wohin wir uns entwickeln wollen.
Im VFG begegnen sich – und dies ist sehr bedeutsam – die Verbandsleiter. Er ist der einzige Ort, wo sie regelmässig zusammenkommen. Selbstverständlich haben einerseits die Evangelikalen, anderseits die Pfingstler untereinander vielfältige Beziehungen. Aber über die ganze Breite des Freikirchen-Spektrums ist die Leiterkonferenz des VFG das einzige institutionalisierte Forum. Und die Leiter kommen mit einer unglaublich hohen Verbindlichkeit. Es gibt kaum Abmeldungen von den drei Treffen pro Jahr, die je einen Tag dauern.

An diesen Treffen begegnen wir einander persönlich. Aus dem Wissen um die Situation der Verbände können wir einander ermutigen. Wir spüren auch, was die Leute bewegt und welcher neue Gag gerade auf eine Bewegung zukommt, in welcher Gefahr man steht. Das ist sehr interessant. Die Leiter wirbeln während des Jahres im eigenen Verband, kämpfen etwa mit den Problemen, welche die hedonistische (lustorientierte) Einstellung aufgibt. An diesen Tagen können sie sich mitteilen und aufnehmen, wie andere damit umgehen. Das ist sehr wertvoll.

Der VFG hat in Aarau ein Sekretariat eingerichtet. Werden wir bald genauer wissen, wie viele Freikirchen es in der Schweiz gibt?
Uns geht es nicht um eine möglichst detaillierte Statistik. 14 Verbände von Freikirchen-Gemeinden machen den VFG aus. Diese 14 Verbände repräsentieren etwa 600 Gemeinden.

Wie viele Personen gehen am Sonntag in diesen Gemeinden in den Gottesdienst?
Immer wieder ist von etwa 100'000 Personen die Rede. Wer ist Gottesdienstbesucher? In den Freikirchen gehen wir statistisch von Mitgliedern aus. Allerdings haben die verschiedenen Gemeindeverbände bisher unterschiedliche Zählweisen. Wir haben uns nun geeinigt, dass wir jene als Mitglieder betrachten, die über 16-jährig sind und verbindlich einer Gemeinde angehören (auch wenn sie nicht eingeschriebene Mitglieder sind). So kommen wir auf über 100'000 Personen. Wir schätzen, dass die VFG-Szene gegen 150'000 Personen zählt.

Die Freikirchen sind verschieden. Bleiben sie es? Oder lernen sie unter dem VFG-Dach so viel voneinander, dass sie einander ähnlicher werden?
Da muss man sich fragen, welches Mass von Angleichung wünschenswert ist. Ich glaube, dass unsere Schweiz eine Vielfalt von Gemeinden braucht. Unsere Gesellschaft ist dermassen fragmentiert, dass ein Gemeindetyp nicht alle Bevölkerungsschichten erreichen kann. Anderseits wende ich mich dagegen, dass man für jede Schicht eine Spezialgemeinde macht. Ich glaube an die biblische Gemeinde, in der Junge und Alte, auch Menschen aus verschiedenen sozialen Hintergründen einander in Jesus Christus finden. An die Gemeinde, die darüber hinaus eine prophetische Kraft ist, die Einheit zum Ausdruck bringt, die Jesus durch seinen Geist wirkt.

Freikirchen haben ihre Geschichte, auf die man Rücksicht nehmen muss. Ihre speziellen Berufungen hangen damit zusammen. Es gibt nun einmal Freikirchen, die der reformierten Landeskirche näher stehen, weil sie aus ihr heraus gewachsen sind, und da eine Aufgabe sehen. Andere Freikirchen sind völlig unabhängig entstanden.
Insgesamt glaube ich, dass wir ein Bund bleiben dürfen. Dieses Prinzip halten wir im VFG hoch: Wir wollen nichts vom dem tun, was die einzelnen Verbände aus eigener Kraft tun können, geschweige denn, was die einzelnen Gemeinden aus eigener Kraft tun. Vielmehr überlegen wir uns immer: Was können die einzelnen Verbände und Gemeinden nicht tun; wo muss der VFG Hand anlegen?

Auf nationaler Ebene kanalisierte der VFG in den letzten Jahren die Mitwirkung der Freikirchen am expo.02-Projekt der Kirchen. Trotz vernehmlichem Bauchweh trug der VFG die Ausstellung mit den sieben Cabanes am Seeufer in Murten mit. Anderseits setzte sich der SEK in der Fristenlösungsfrage von der traditionellen christlichen Position ab. Wie können Sie damit umgehen?
Bei der Landesausstellung hofften die Freikirchen, noch eine weitere Plattform zu bekommen. Sie wollten im Rahmen der expo.02 einen Christustag veranstalten. Dieser Traum wurde häppchenweise vernichtet. Das machte uns Mühe. Bei den Projekten, die der VFG mittrug (Pfingsten, Bettag), machten nicht alle seine Verbände mit. Der VFG blieb im Kirchenverein, weil man sich die Chance nicht vergeben wollte, an der expo aufzutreten. Für mich persönlich war der Auftritt der Kirchen enttäuschend. Bei dem hohen Aufwand erwartete ich mehr.

Anders verhält es sich mit der Abtreibungsfrage. Wir mussten feststellen, dass der Kirchenbund, der offensichtlich die Mehrheitsmeinung der reformierten Kirchen zu dieser Frage reflektiert, und die Freikirchen klar unterschiedliche Positionen haben. Dazu müssen wir stehen. Wir suchen keinen Einheitsbrei. Unsere Gespräche im SEK, die auf einer guten Ebene verlaufen, haben nicht ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘ zum Ziel. Es gibt Themen, wo wir prononciert andere Auffassungen haben.

In der Trägerschaft des Christustags 2004 ist der SEK wieder vertreten?
Ja, und zwar ausgesprochen mit dem Ziel, jene Kräfte in den reformierten Kirchen zu vertreten, die dem freikirchlichen Verständnis des christlichen Glaubens nahestehen.

Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben die Fristenlösung mit klarer Mehrheit bejaht. Daran ist nicht zu rütteln. Wird der VFG nun darauf hinwirken, dass freikirchliche Christen in der Schweiz mehr tun für Frauen, die ungewollt schwanger werden? Dass Initiativen gefördert werden, die sich der Frauen und ihrer Kinder annehmen?
Da ist ganz intensive Arbeit zu leisten. Wir begegnen dieser Herausforderung zweifach. Zum einen hat jede Freikirche Kontakt zu Frauen in dieser Lage. Sie kann konkret helfen, ohne dass man in der Öffentlichkeit davon redet. Ich weiss von Gemeinden, die konkret Frauen geholfen haben, finanziell, praktisch, damit sie ihr Baby austragen konnten. Vor Ort müssen Gemeinden aktiv werden.

Daneben gibt es Organisationen wie das Weisse Kreuz, die auf eben diesem Feld seit vielen Jahren tätig sind. Wir sprechen uns dafür aus, dass Freikirchen diese Werke unterstützen. Als Dachverband mit beschränkten Mitteln können wir keine eigene Initiative ergreifen. Zudem haben die Freikirchen den Mut, in sexualethischen Fragen klare Antworten zu geben. Da nehmen wir die Herausforderung präventiv an.

Datum: 18.08.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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