Der zerrissene Pendler 3 - Die Seele auf der Autobahn

"Nation ist zum Betrieb gediehn
aus Produzieren plus Erziehn."

Eine ganze Welt hat auf dieser Zweiteilung zwischen Wohn- und Geschäftsvierteln aufgebaut Wir haben ein Maximum an Produktion und Wissensvermittlung durch diese Spaltung in Massenproduzenten und Konsummenschen erreicht. Ich meine, wir sollten, was Produktion und Schulung anbetrifft, so weitermachen. Beide sind etwa die besten Dinge der modemen Welt Sie hat ihr ganzes Denken diesen beiden Sachen zugewandt, und sie sind deshalb so gut wie vollkommen.

Ich würde es als schwachköpfig bezeichnen, wollte man gewisse Lebensarten, die ihre Tüchtigkeit unter Beweis gestellt haben, wieder aufgeben, ich bin aber auf der andem Seite an den Unkosten dieser Errungenschau interessiert. Für nichts gibt es einfach nichts. Sie haben etwas gekostet. Ja, als Meister auf dem Gebiet der Produktion und Erziehung, der Arbeit und des Konsums, haben wir zwei andere Lebensaspekte verwahrlosen lassen, Reproduktion und Schöpfung, jene Vorgänge, die das Leben erneuern und wirkliche Gemeinschaften gründen. In alten Zeiten lautete die Formel für die beiden Handlungen: Himmel und Erde erneuern. Doch prosaisch ausgedrückt bedeutet sie: Fruchtbarkeit und Verwurzelung in der Gemeinschaft. Die letztere wurde als himmlisch, die erstere als irdisch angesehen.

Unsere Analyse des Vororts und der Fabrik sehnt sich in keiner Hinsicht nach der "guten, alten Zeit", wir haben auch nichts gegen die Wunder der Leistungsfähigkeit beim Volkswagen oder bei Siemens. Wir sollten so weitermachen.

Der moderne Mensch: höflich oder ansprechbar?

Doch schauen wir jetzt den Menschen ansehen, der aus dieser Zweiteilung des Familienangehörigen und des Rädchens im Getriebe hervorgeht. In einem eigentümlichen Zug können wir vielleicht sein besonderes Problem finden. Dieses liegt in der Tatsache, dass jeder zwei Sprachen sprechen soll. Im Bereich des Geschäftlichen sind seine Worte blosse Werkzeuge. Die beste Annonce zu verfassen ist hier die grosse Kunst. Im Vorort, zu Hause, im Klub und im Gemeindesaal aber wird von jedem die höfliche Ausdrucksweise erwartet, und der vorortliche Friede kommt dann ins Wanken, wenn irgendeiner nicht in den üblichen Redewendungen antwortet. In der Fabrik sind wir ferner am besten dran, wenn wir namenlos sind: "ohne Unterschied der Rasse, Weltanschauung oder Konfession". Im Vorort denken wir sehr an all die geweihten Namen und Titel in der Gruppe.

Das bringt das neue Phänomen des gespaltenen Pendlers klar zum Ausdruck: Hier gibt es ein menschliches Wesen, das die Hälfte der Zeit voller Namen, die andere Hälfte aber gänzlich namenlos ist. Die zwei Welten des gewöhnlichen Arbeitnehmers können sich gegenseitig nicht durchdringen. Tagsüber gehört er irgendeiner Gewerkschaft an oder dem entsprechenden Verband, der unpersönlich sein "Interesse" vertritt. Zu Hause ist er wirklich persönlich interessiert. Wenn ich mich also von einem Ort zum andern begebe, lässt der eine Mensch in mir den anderen jedesmal weit zurück. Wird die geistige Ruhe des modernen Menschen am besten durch eine möglichst saubere Trennung erreicht?

Auf die Formel gebracht

Wer nun ist dieser Mensch, diese zwiefache Persönlichkeit, die sich aus dem Menschen bei der Arbeit und dem Menschen zu Hause zusammensetzt, sozusagen die Summe von MA + MB? Wie kann er sich selbst weiterhin als ein und denselben Menschen erkennen? Der wirkliche Mensch, der sein ureigenstes Sein zu erkennen versucht, müsste sein Augenmerk auf jene Anfangssituation richten, in der er weder vorortlich noch fabriklich beschlagnahmt ist und doch beider Situationen als der auf ihn wartenden gewärtig ist. Als wir sagten, dass "MA + MB" gleich moderner Mensch ist, haben wir ein wichtiges Element ausser acht gelassen.

Was seine eigentlichen Ansprüche auf unsere Zeit und unsern Raum betrifft, so können diese unendlich klein sein, aber doch wissen wir alle davon. Es gibt ein " + ", welches wir zwischen MA und MB einsetzen müssen, zwischen den Menschen bei der Arbeit und den zu Hause, und dieses " + " ist der Mensch in den ein oder zwei Stunden, wo er unterwegs ist. Wer sind wir denn eigentlich auf dem Wege zwischen Büro und Familie? Finden wir den Menschen in seiner wahren Gestalt nicht gerade auf der Autostrasse als Pendler am Steuer seines Wagens? Vielleicht ist er sehr müde dabei. Wie es auch sei, in einer Hinsicht ist dieses ermüdete Tier in hohem Masse Mittelpunkt. Auf der Autostrasse als Pendler spricht der wirkliche Mensch allein mit sich selbst.

Die Erhabenheit des Pendlers

Mehr und mehr nimmt die moderne Literatur von diesem Pendler Notiz. Unsere Schriftsteller wollen hinter die Person, wie sie entweder als Arbeitstier oder als "Honigschlecker" in den Traumhäusern erscheint, sehen, und so finden sie diese auf der Autostrasse unterwegs. In seinem Roman "When Winter Comes" fasst A. S. Hutchinson das in einem Absatz zusammen: "Bei seiner einsamen Fahrt auf dem Fahrrad (heute Motorrad, Auto oder Schnellbahn) ist der Pendler auf geheimnisvolle Weise losgelöst, allen Gemeinheiten zauberhaft entrückt. Daher kommt sein Gefühl der Herablassung, mit dem er nach Hause zurückkehrt oder das Geschäft betritt" (Boston, 1921, S. 41ff.). Der Ausdruck "Herablassung" fiel mir besonders auf. "Meine hochwertige Persönlichkeit", sagt sich der Pendler, "ist allein auf der Strasse. Die zwei sozialen Umwelten, zwischen denen ich mich hin und her bewege, sind nichts dagegen."

Mit anderen Worten: Der Mensch kann in seiner vollen Gestalt nur dort angetroffen werden, wo er für seine geringeren Daseinsformen Herablassung übrig hat. Nur da ist er auf der Höhe, die ihm zukommt.

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Vom sinnvollen Fluchen

Die Begegnung der Seelen auf der Autobahn hat verständliche Inhalte: ein strenges Urteil über den Hintergrund und den Beruf, die mich gefangen halten, die Freude, ihnen entronnen zu sein, und die Hinwendung zu einer neuen Gemeinschaft, die nicht von den Erbsünden der gerade bestehenden Technik abhängig ist. Das Fluchen, die Anklage und das Waschen schmutziger Wäsche sind durchaus angebracht in einer Gruppe, die dadurch den inneren Menschen von den Widerhaken seiner Hinter- und Vordergrundinteressen, von Mentalität und toter Materie erlösen will. Die Waschfrau aus Schönlanke "ist" ja, weiss Gott, weder Waschfrau noch schönlankesch.

Der fromme Hass der Puritaner gegen das Fluchen hat den Menschen langsam auch zum Segnen unfähig gemacht Wer nicht mehr energisch zu fluchen vermag, hat auch nicht die Kraft zu segnen oder gesegnet zu werden. Unsere Gesellschaft ist so furchtbar höflich, dass sie gesellschaftliche Übel nicht verfiuchen kann; statt dessen zieht sie es vor, Gott zu lästern.

Wer nicht die Unzulänglichkeit seines Berufs als Anwalt, Lehrer, Verbandssekretär, Doktor oder Priester verfluchen mag, muss diesen Beruf immer über das seiner seelischen Gesundheit entsprechende Mass hinaus verteidigen.

Ausrufen in der Gemeinschaft

Der Doktor, der die Medizin, wie sie heute gerade ist, gegen alle Kritik von aussen verteidigt und an keinem Punkt uneigennützig mit den Kritikern seines Berufs zusammengehen will, muss seiner Seele damit Gewalt antun. Denn unterwegs auf der Autobahn weiss er genau, wieviel an seinem Beruf nicht in Ordnung ist. Nun, alles, was der einsame Mensch weiss, muss er einmal offen um des Heils willen in der Gemeinschaft mit anderen bekennen können. So müssen die Seelen auf der Autobahn die Hölle ihres blossen Funktionierens auch öffentlich anerkennen. Die neue Form der Gemeinschaft muss den Flüchen über meine eigene soziale Funktion einen Platz einräumen; denn gerade an solchem Heraustreten aus der Funktion entzündet sich meine Hoffnung.

Die Seele auf der Autobahn sucht nach Gruppen, in denen Menschen in kosmischem Wirken zusammenkommen, d. h. dass sie körperlich arbeiten; dass sie geduldig schweigen, d. h. ohne ketzerischen Stolz; dass sie warmherzig harren, d. h. ohne die Garantien irgendeines Dienstgrades. Alsdann können Chaos, Finsternis und Verwirrung in ihnen absterben. Wenn die Seelen in der Gemeinschaft zugeben, dass Chaos, Wirrwarr, Alpdrücke sie in Fesseln halten, bereiten sie eben damit diesen Dingen ein Ende. Erst diesem Ende kann das Morgengrauen einer kosmischen Ordnung folgen. Der kosmische Vorgang, der Christentum heisst, stellt das Ende an den Anfang und lässt den Anfang später kommen. Die Reihenfolge ist: Sehnsucht, Verheissung, Ende, Anfang.

Gib zu, dass Chaos, Wirrwarr und Finsternis unser gemeinsames Erbe sind, und dass diese Hypotheken auf unseren Fortschritten vergeben werden können. Das gesellschaftliche Chaos kann nicht zum Kosmos werden, ohne dass der Mensch dieses Chaos auf sich nimmt als sein eigenes geistiges Chaos, ohne dass er seine Maske des akademischen Beobachters und seinen Stolz als "geistiger Selbstversorger", gewöhnlich Objektivität genannt, fallenlässt.

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Ein Vorschlag: das Siebenjahres-Timeout

Vor hundert Jahren übte ein Arzt, Pfarrer oder Rechtsanwalt lebenslänglich seine Praxis mit wenig oder gar keinem Urlaub aus. Heutzutage brechen sie nach einem Jahrzehnt zusammen und doktern unaufhörlich an ihren täglichen Gewohnheiten herum. Telefon, Auto, Flugzeug, Post setzen sie nämlich instand, mengenmässig jetzt in zehn Jahren soviel zu leisten, wie früher in einer ganzen Lebenszeit. So ist es gar nicht erstaunlich, wenn sie jedes Jahrzehnt aufhören müssen, zu existieren. Alle zehn Jahre sind sie reif zum Begräbnis; sie müssen sich zurückziehen und ein ganz neues Leben anfangen, weil sie ein ganzes Leben in eine viel kürzere Zeitspanne hineingepfercht haben. Ist nicht der sich grosser Beliebtheit erfreuende "Nervenzusammenbruch" das beredteste Argument für eine Siebenjahreswoche?

Datum: 25.03.2002

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