Der zerrissene Pendler 1 - Der Vorort

Von Jahr zu Jahr breiten sich die Vororte weiter aus und verschlucken einen Ort nach dem andern, der vorher ein echtes allumfassendes Gemeinwesen darstellte. Ich habe das an meinem eigenen kleinen Dorf in Vermont erlebt. Der Vorort ist für das moderne Leben so typisch geworden, dass wir ihn getrost als Abbild unserer arbeitsfreien Stunden gebrauchen können.

Leben in geistiger Inzucht

Das Vorortleben ist unwirklich, weil es den Schmerz und die Konflikte ausschliesst. Eine Kleinstadt oder Grossstadt wird von allen möglichen Leuten bewohnt - ein Vorort wird sehr oft nur von einer gewissen Einkommensgruppe, einer Rasse, einer Bildungsschicht bewohnt. Ihre lebenswichtigsten ökonomischen Verbindungen, ihren Kampf um den Lebensunterhalt tragen diese Einwohner ganz woanders aus. Sie laden womöglich Geschäftsfreunde zum Wochenende ein, aber niemals den Chef, der sie rausgeschmissen hat, oder die Sekretärin, die sie angefahren haben. Die Vorort-Heirat ist eine Art geistiger Inzucht, es gibt wenig Platz für Abenteuer, wenn sich Junge und Mädel schon von der Schule her kennen. Kein Romeo und keine Julia können in einem Vorort zum Leben erweckt werden; denn die Montagues und Capulets tragen dort keine homerischen Kämpfe aus, und keine Miranda wird nach dem Sturm auf einer InseI umworben; die Mühen der Liebe sind verloren. Kinder werden ja nicht in dem Vorort, sondern in der Klinik geboren. Wie soll ein Mann aber weiterhin den Notfällen im Krieg oder Frieden mit der ganzen Tiefe des Heroismus gegenübertreten, wenn er nicht vorher einmal gezittert hat angesichts jenes überwältigenden Schmerzes, der eintritt, wenn die Frau ihren Kampf gegen den Tod führt? Die schweren Stunden einer Frau bringen sie an den Pol, der ihrem bräutlichen Dasein entgegengesetzt ist. Und von der ungeheuren Revolution der Seele, wenn in Blut und Weh die Frucht der Liebe auf die Welt kommt, sind die modernen Ehemänner durch die medizinische Kaste ausgeschlossen. Aber wo sonst können wir des Gesetzes der Schöpfung je inne werden? Diese Eheleutchen heiraten, wie man so sagt, zum Spass und um sich miteinander zu vergnügen; vielleicht gehen sie auch auf die sonntägliche Kirchgangsparade, weil die Brausewetters und Langemanns auch hingehen. Von der Kreuzigung aber, über die von der Kanzel als von dem universalen Zeichen, welches das Gesetz des Lebens enthält, gesprochen wird, können sie nichts gewahr werden, da sie von der entsprechenden Agonie ihrer Frauen verschont bleiben.

Fürs Leiden nur ein Lächeln?

Im gleichen Masse werden die Kranken isoliert, und der Tod darf so weit wie möglich nicht sichtbar im Vorort erscheinen. Sogar das Wort "Tod" ist beinahe tabu; die Leute geraten in Verlegenheit, wenn sie von diesem Thema hören. Der Film "Peter der Grosse" zeigt eine Sterbeszene, in der die Zarin leidenschaftlich über den sterbenden Zaren weint. Das ganze Publikum in unserem Vorstadtkino lachte über diese Szene. Ich bat später meine Studenten, die dabei waren, um eine Erklärung. Nach einem Tag Nachdenken antwortete der Ernsteste von ihnen: "Wir lachten, weil wir ganz sicher waren, dass wir unter keinen Umständen voll solcher Verzweiflung weinen würden." Aber wie kann man denn die wundersame Einheit von Geist und Körper, Geist und Fleischwerdung, erkennen, wenn man nicht ein Mal Zeuge des letzten Atemzuges eines geliebten Menschen war?

Das Vorortleben ist solchermassen zurüchhaltend, konziliant und unfruchtbar. Es gibt einen besondern Ausdruck für seine lauwarme Atmosphäre; es hat eine Mentalität. Mentalität ist das, was von der Seele übrigbleibt, wenn man die kreuzigenden Erlebnisse, die in kräftigeren und lebendigeren menschlichen Beziehungen ihre Frucht tragen, auslässt. Die Mentalität weiss nichts vom Himmelhoch-Jauchzen und Zu-Tode-betrübt-Sein, von Schreien und Fluchen, von Wehklagen und Stöhnen, Rufen und Tanzen und Weinen und Singen.

Leblose Verkündigung

So ist es gar nicht verwunderlich, dass Lehren und Predigen im Vorort zu blosser Wortklauberei werden. Die Mentalität entmannt das Wort. Wie können wir ernstlich von Gott oder König Lear sprechen in einer Umgebung, die künstlich zurechtgestutzt und sterilisiert wird? Die Frau eines Pfarrers in einem "besseren" Vorort bemerkte einmal ganz naiv, dass ihr Mann eigentlich ein erheblicher Sozialrefomler sei, aber seitdem er in seine jetzige reiche Gemeinde gekommen sei, habe er keine Gelegenheit mehr, seine radikalen Ideen zu äussern.

Nun gibt es gleichzeitig ein Paradoxon für den Vorstadtmenschen. Er lebt zwar inmitten zuviel Friedens, aber kennt keinen inneren Frieden. Er stellt ein richtiges Schlachtfeld dar für Hunderte von Organisations- und Machtgruppen. Er wird von dem unvermeidlichen inneren Zwiespalt hin und her gerissen, den der Vorort nur unterdrücken, aber nicht aus der Welt schaffen kann.

Der Vorstadtmensch: einsam und zerrissen

Das Kreuz der Wirklichkeit ist das unauslöschliche Zeichen des Zwiespalts, das in der ganzen Struktur des Lebens fest verwurzelt ist; eine Gesellschaft, die es unanständig findet, an den Qualen unserer Seelen Anteil zu nehmen, bürdet dem einzelnen eine Last auf, für die er weitaus zu schwach ist. Nur zusammen können wir die verschiedenen Fronten des Lebens ausreichend meistem, können wir die Anspannung zur Entscheidung, die uns dabei bereitet wird, aushalten und das Risiko der dabei unvermeidlichen falschen Entscheidungen ertragen. Neurosen und Nervenzusammenbrüche wuchern in den Vororten, weil es an jener Gemeinsamkeit fehlt, nach der die tieferen Nöte und Leidenschaften sschreien. Der Fluch des modernen Menschen ist deshalb der, immer unverbindlicher zu werden aus Angst, sich in irgendeine Sache zu weit einzulassen.

aus Angst mittelmässig

Er will immer sicher gehen, stets eine minimale Haltung einnehmen und nie nach einer Seite hin handeln, ohne sich nich vorher mit einem verstohlenen Blick auf die andere Seite zu vergewissern. Die Zaghaftigkeit des Vororts erzeugt eine dazu passende Philosophie, die heute die meistverbreitete Psychologie und Soziologie durchdringt: die Psychologie der Anpassung, der goldenen Mittelmässigkeit. Diese These bedeutet: Keine wirkliche Begeisterung, keine echte Hingabe, kein wirklicher Kampf, keine wirkliche Liebe. Sie lädt uns in eine Zukunft ein, in der alle die Energien, die unser eigenes Dasein möglich gemacht haben, abgekühlt sind.

Die Worte und Institutionen, denen wir unser Leben verdanken, sind durch maximale Anstrengungen geschaffen worden. Die Philosophie des Minimal-Lebens würde nie ein Kunstwerk, ein Lied, eine Entdeckung, eine freie Verfassung möglich machen. Die Zukunft, zu deren Anwalt sie sich macht, würde aus blosser Vorsicht keine Kinder mehr geboren sehen, aus Angst vor Schmerzen kein Leid mehr fühlen, aus Angst, altmodisch zu sein, keine Treue mehr schätzen. Der Mensch befindet sich auf dem Wege zur vollständigen Säkularisierung.

Befreiende Hingabe

Sind wir dazu verdammt, die Flammen des Lebens auszulöschen, nur weil sie zu gefährlich sind? Ist Zaghaftigkeit wirklich das letzte menschliche Wort? Ein wirklicher Mann strebt mit ganzem Herzen nach der Verkörperung seiner Seele auf Erden. Sein Problem ist es, wie er die grösste Anstrengung, die Bewegung mit allen Herzenskräften, an jeder Front leisten kann, und dann, wie er die rechte Tat, den göttlichen wertschaffenden Schritt, zu jeder Zeit begehen kann. Und der einzige Weg, ihn für diese Aufgabe zu stärken, ist, den Fluch des Alleinseins von ihm zu nehmen.

Auf der andern Seite kann das Heilmittel gegen das Alleinsein nicht in kleinen Schritten, tropfenweise, eingenommen werden. Die Trennung zwischen den Menschen muss überwunden werden mit derselben ungeheuren Anstrengung, mit der wir ein Seil über einen wilden Fluss werfen, bevor wir eine Brücke Stück für Stück bauen können. Das Herz muss mit grosser Zielstrebigkeit seinem Vertrauen in die Gemeinsamkeit der Menschen nachleben. Tut es das nicht, wird es weiterhin gebrochen sein und allein bleiben. Freiheit erhalten wir nur durch unendliche Anstrengung und Hingabe.
Mein Freund Wagenmann, Ingenieur in Stuttgart, bewies geistvoll und mathematisch, dass keine Wirkung begrenzter Art ohne Einwirkung unbegrenzter Art möglich. sei.

Das Kreuz erfüllt seinen Sinn, so oft seine Last geteilt wird. Die Macht der Liebe überkommt und heilt unser zerfurchtes Selbst. Das Christentum offenbart dem Menschen, dass seine Zerrissenheit sein menschliches Privileg ist; denn zwischen Menschen, die sich selbst genug sind, könnte sich keine Gesellschaft entwickeln. Der Mensch ist deshalb zwiespältig, damit er aufhören möge, Individuum zu sein. Wenn ein Mensch nicht weiss, dass die innere Zerklüftung ganz in der Ordnung ist und dass es eine göttliche Macht gibt, die dadurch Personen hervorbringt, dass sie uns aus dem Schmelztiegel der Gemeinschaft emporläutert, wird er vor jeder von Menschenhand erdachten Macht kapitulieren, wenn sie ihm nur Einheit, Festigkeit und Sicherheit verspricht.

Viele Deutsche akzeptierten die Nazis, weil sie einfach spürten, dass verrückte Entscheidungen besser als gar keine wären. Zerrissene Menschen sind gefährliche Menschen. Sie werden sich in die Hölle begeben und den Teufel um der Macht willen aus irgendwelchen wilden Begehren anbeten, es sei denn, wir entzünden die Macht des Geistes in ihrer ursprünglichen Weissglut aufs neue. Das ist heute der grosse Appell an das Christentum.

Fortsetzung des Artikels: Der zerrissene Pendler 2 - Die Fabrik

Datum: 25.03.2002

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