Talk zum Tabu-Thema

Unerfüllter Kinderwunsch: Was jetzt?

Gemäss Studien bleibt jedes fünfte Paar in der Schweiz ungewollt kinderlos, Tendenz steigend. Hinter diesen Studien stehen einzelne Paare, zerplatzte Träume, Trauer. Zwei betroffene Paare gaben im Livenet-Talk Einblick in ihre Geschichte, die Schwierigkeiten und wie sie eine neue Perspektive finden konnten.
Vlnr: Die Ehepaare Stoessel und Colella im Gespräch mit Florian Wüthrich (Bild: Livenet)
Tiziano und Christa Colella (Bild: Livenet)
Rachel Stoessel
Martin Stoessel

Ungewollt kinderlos – dieses Thema ist in christlichen Kreisen nach wie vor tabu. Vielleicht, weil niemand eine Antwort auf das Warum hat? Oder weil es schwierig ist, sensibel zu sein und den Schmerz mitzutragen? «Es ist sehr schwierig, im christlichen 'Kuchen' Leute zu finden, die offen darüber reden und mit denen man einen Austausch pflegen kann – ich finde das sehr schade, denn das braucht es.» Dies empfindet Tiziano Colella. Er heiratete erst spät seine Frau Christa. Beide hatten eine schwierige medizinische Vorgeschichte. Und schon zwei Jahre nach der Hochzeit war klar, dass sie keine Chance auf eigene Kinder hatten.

Für beide ein schwerer Schlag. Was jetzt? Künstliche Befruchtung? Adoption? Tiziano: «Wir haben im Vorfeld überlegt: Was stimmt für uns? Wie weit wollen wir gehen? Und das war gut für uns, dass wir relativ gleich gespürt haben, wo die Grenzen sind…» Künstliche Befruchtung lag für beide ausserhalb dieser Grenzen. Seine Frau Christa erklärt, dass sie nicht etwa denken, dass Christen dies nicht tun dürfen, sondern weil sie im Bekanntenkreis miterlebt haben, «was das für ein Leidensweg ist, das Hoffen und Bangen und die körperliche Herausforderung mit den Hormonen – und auch das Ethische, mit dem man sich auseinandersetzen muss; das alles habe ich mir nicht zugetraut oder nicht zutrauen wollen».

Auch für Rachel und Martin Stoessel, ein ebenfalls betroffenes Paar, war es wichtig, von Anfang an offen darüber zu reden, was für Möglichkeiten es gibt und was für sie dran sein könnte. Rachel erinnert sich: «Etwas, das wir uns versprochen haben, war, dass wenn der eine sagt, jetzt sind wir weit genug gegangen, dann gilt das auch für den anderen. Und das war ein guter Entscheid!» Das sieht ihr Mann Martin ebenso: «Wenn man unvorbereitet in diese Mühle hineingeht, kommt man nicht mehr raus, die Mühle lässt einen nicht mehr heraus. Diese Mühle kennt nur das Erfolgserlebnis und macht einfach immer weiter… Für mich war es unglaublich wichtig, dass wir vorher gesagt haben: Bis dahin gehen wir und nicht weiter, egal wie das Resultat sein wird.» Letztlich war er es, der diese «Notbremse» zog, als er merkte, wie die Hormontherapie seine Frau veränderte, aber trotzdem kein Ergebnis brachte. Für Rachel war es hart, dem einzuwilligen. Aber sie kam an den Punkt, an dem sie verstand: «Ok, das haben wir einander versprochen. Mir ist die Beziehung wichtiger als meine Idee durchzubringen.»

Mit Gott ringen

Zu der Entscheidung, wie weit man gehen will mit dem Versuch, Kinder zu bekommen, kommt auch die Konfrontation mit sich selbst: den Traum über eigene Kinder loszulassen. Wie sieht überhaupt ein Leben ohne Kinder aus? Wie kann man ohne Kinder ein erfülltes Leben haben? Denn vielen geht es so wie Rachel: «Mir wurde ein Teil meiner Lebensvorstellung geraubt.» Für Christen kommt hier auch Gott mit ins Spiel: Was hat er sich gedacht? Wenn er ein erfülltes Leben verspricht, wie hat er das gemeint? Für Rachel Stoessel war es wichtig, Momente zu erleben, an denen sie ehrlich sein konnte über den Schmerz und die Trauer, sei das gegenüber ihrem Mann oder auch Gott selbst. «Ich habe ganz viele Klagepsalmen geschrieben – einfach dieses Ringen: Wie sieht mein Leben jetzt aus, wenn das alles sein soll?» Bei ihr dauerte es mehrere Jahre, bis sie ein erstes Ja zu diesem anderen Leben finden konnte.

Auch ihr Mann Martin kam mit 40 in eine Art Midlife-Crisis. Er merkte, er wäre gerne Vater gewesen, hatte die Fähigkeiten, den Wunsch – und trotzdem blieb es ihm verwehrt. Zwei Jahre steckte er in dieser tiefen Krise und rang mit sich und mit Gott. Bis er sich bewusst entschied, Gott zu glauben: Gott hatte ihm in der Bibel ein erfülltes Leben versprochen und dieses Versprechen würde er halten, auch wenn es anders war, als er es sich vorgestellt hatte. Er wollte sich bewusst dieser Spannung stellen. Letztlich fanden beide Frieden über dieser Situation, haben sich aber auch zugestanden, dass es Momente geben wird, in denen der Schmerz wieder aufbrechen kann. Martin: «Das gehört einfach dazu, das ist ok – und zu wissen, dass wir es bei Gott abladen können.»

Mit der Situation versöhnen

Auch für Colellas ist der Prozess nicht abgeschlossen. Christa berichtet: «Es gibt immer mal wieder Momente, wo es mir schwer fällt…» Für sie waren Seelsorgegespräche sehr hilfreich. Als sie sich in einer Erschöpfungsphase befand, empfahl ihr die Seelsorgerin, die Dinge anzugehen, die nicht so schwerwiegend sind wie der unerfüllte Kinderwunsch, weil sie an ihnen etwas ändern könne und diese in absehbarer Zeit veränderbar sind. «Das hat mich sehr entlastet!» Sie weiss jetzt, dass es immer wieder Phasen gibt, in denen der Schmerz erneut hochkommt, dass das aber in Ordnung ist und sie es zulassen darf.

Für ihren Mann Tiziano war das zunächst nicht verständlich – er hatte sich bereits mit der Situation abgefunden, seine Frau dagegen überhaupt nicht. Das musste er erst einmal nachvollziehen lernen. Doch heute weiss er: «Das gehört jetzt einfach ein Stückweit zu unserem Leben dazu.» Auf der anderen Seite findet er es wichtig, zu sehen, was für Vorteile ihr Leben hat und das auch auszunutzen, etwa Essen gehen zu können, ohne auf Kindern aufzupassen. Ihm ist es wichtig, nicht das ganze Leben auf das Projekt «Kinder» auszurichten und nicht alle Energie da reinzustecken.

Sensibilität und Offenheit in Gemeinden

Martin Stössel half es sehr, dass in seinem Arbeitsumfeld viele Menschen waren, die sehr verständnisvoll reagierten, ihm auch einfach zuhörten und ihn ermutigten. «Mir hat es auch geholfen, Barmherzigkeit mit mir selbst zu haben; dass ich mich zwar versöhne mit der Situation, aber mir auch zugestehen, dass es auch wieder hochkommen kann…»

Dieses Verständnis und die Sensibilität fehlen häufig in Gemeinden. Die Talkgäste ermutigten, bewusst Momente für kinderlose Paare zu kreieren, da sich grundsätzlich vieles in der Gemeinde um Familie und Kinder drehe. Aufgrund fehlender Angebote planen Christa und Tiziano Colella derzeit mit anderen Betroffenen ein Angebot für ungewollt kinderlose Paare. Angedacht ist erstmals ein Wochenende zum Austausch, zur Ermutigung und Erfrischung.

Weitere Informationen hierzu finden sich hier.

Den ganzen Talk ansehen:


Zum Thema:
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Datum: 07.11.2020
Autor: Rebekka Schmidt
Quelle: Livenet

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