Die Zukunft der Gemeinde

Sonnen- und Schattenseiten des Individualismus

Wir leben in einer individualistischen Welt. Davon ist auch die Kirche betroffen. Sich darüber zu beklagen, nützt nichts. Der Individualismus bringt nicht nur Schlechtes – wohl aber ganz neue Herausforderungen.
Individualismus

Wird jemand als Individualist bezeichnet, bedeutet dies meistens nichts Gutes. Vielleicht wird ausgedrückt, dass sich die Person einen Dreck um seine Mitmenschen schert. Es könnte auch die Eigenschaft des Einzelgängers betont sein. Ein Kompliment ist die Bezeichnung «Individualist» aber selten.

Was ist eigentlich ein Individualist?

Der Duden liefert für das Wort folgende Definition: «Jemand, der einen persönlichen Lebensstil entwickelt hat und sich dadurch von anderen abhebt.» Das klingt doch eigentlich gar nicht so schlecht. Menschen, die ihren eigenen Weg gehen, sind in der heutigen Gesellschaft hoch im Trend – zumindest solange sie niemandem etwas zuleide tun. Individualisten haben ihren eigenen Lebensstil gefunden und bemühen sich nicht, eine Kopie von irgendjemandem zu sein. Konsequenterweise verurteilen sie auch niemanden dafür, nicht in die gängige Vorstellung zu passen. Anders zu sein, ist nicht nur in Ordnung, sondern sogar erstrebenswert.

Die Sonnenseite des Individualismus

Entgegen einer verbreiteten Meinung bringt der Individualismus Gutes mit sich. Wenn man ein individualistisches Land wie die Schweiz mit anderen Ländern vergleicht, wird unter anderem folgendes klar: Individualisten sind bemüht, Mitmenschen so anzunehmen, wie sie sind. In Kulturen, wo das Gemeinsame (Familie oder Dorfgemeinschaft) im Zentrum steht, haben es Andersdenkende oft nicht leicht.

Weiter wird in einer individualistischen Gesellschaft jeder dazu angehalten, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Niemand kann davon ausgehen, dass Mitmenschen in die Bresche springen, um Fehler und Versäumnisse zu beheben oder zu verstecken. Für die Wirtschaft ist dieses Verantwortungsgefühl ein grosses Plus. Individualisten sind weniger um ihren Ruf besorgt, als vielmehr darum, ihr Leben in Ordnung zu halten. Sie haben keine Mitmenschen, die ihnen ständig zu verstehen geben, dass sie Schande über die Gemeinschaft bringen.

Die Schattenseite des Individualismus

Natürlich hat der Individualismus auch Schattenseiten.  Was passiert, wenn Menschen ihrer Verantwortung aus irgendwelchen Gründen nicht nachkommen? Oft stehen sie alleine da – und bräuchten dringend jemanden, der sie korrigiert und ermutigt.

Bedingungslose Annahme, so gut diese auch sein mag, hat wenig Wert, wenn daraus keine echte Gemeinschaft entsteht. Die Eigenarten der Mitmenschen können leicht akzeptiert werden, solange man sich nicht mit ihnen abgeben muss. An dieser Stelle verliert die Wertschätzung der Individualisten, dem Andersartigen gegenüber, schnell an Bedeutung. «Es ist ok, wie du bist», bekommt ein «schwieriger» Mitmensch zu hören. Doch dann trennen sich die Wege, weil man die Auseinandersetzung scheut.

Die Chance für die Kirche in einer individualistischen Gesellschaft

Die christliche Gemeinde hat in einer zunehmend individualistischen Gesellschaft neue Möglichkeiten. Den Mitmenschen bedingungslos anzunehmen, entspricht dem Evangelium. Wer Jesus in sein Leben aufnimmt, wird dadurch Teil der Gemeinde – mitsamt seinen Charakterstärken und -schwächen. Im Gegensatz zur individualistischen Gesellschaft, soll in der Gemeinde aber echte Gemeinschaft gelebt werden. Die Gläubigen wenden sich nicht von «sonderbaren Erdenbürgern» ab, sobald es anstrengend wird.

Akzeptanz ist heute allgemein hoch im Kurs und bedingungslose Annahme ein verbreitetes Ideal. Viele Zeitgenossen erfahren heute aber, dass sie fallengelassen werden, wenn ihr Anderssein ihre Mitmenschen und Arbeitskollegen zu sehr fordert. Genau hier sind Christen aufgerufen, einen Unterschied zu machen.

«Verbindlichkeit» und «Treue» sind mehr als nur Worte

Aufgrund des Wertezerfalls in der Gesellschaft haben Aussagen wie «Gott nimmt dich an, wie du bist» immer weniger Bedeutung. So wie wir sind akzeptiert zu werden, ist immer weniger etwas Besonderes. Aber Gott nimmt uns nicht nur mitsamt unserer Fehler und Schwächen an, er will an unserer Seite bleiben. Gott verspricht, uns treu zu sein und uns niemals zu verlassen. Er nimmt uns die Verantwortung nicht ab, aber steht uns zur Seite und hilft uns.

Genau nach dieser Verbindlichkeit sehnen sich immer mehr Individualisten. Sie brauchen keinen Prediger, der ihnen sagt: «Du bist angenommen, wie du bist!» Solche Sprüche kennen sie schon zu Genüge. Sie sehnen sich nach jemandem, der auch dann zu ihnen steht, wenn sie anstrengend sind und Fehler begehen.

Die christliche Gemeinde in einer individualistischen Welt steht auf dem Prüfstand: Begegnet sie der Not dieser Welt mit voller Hingabe oder ist sie am Ende doch selbst nur eine fromm verpackte Ansammlung von Individualisten?

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Datum: 13.06.2019
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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