Explosiver Streit hält Indien in Bann

Inder

Delhi - Die indische Unionsregierung hat das Oberste Gericht des Landes aufgefordert, das im letzten Jahr ausgesprochene Verbot von Hindu-Ritualen in der unmittelbaren Nachbarschaft eines umstrittenen Geländes im nordindischen Ayodhya aufzuheben. 1992 hatte ein Mob fanatischer Hindus dort eine historische Moschee gestürmt und zerstört. In der Folge kamen über 2'000 Inder bei Ausschreitungen in zahlreichen Städten um. Der Welt-Hindu-Rat VHP, der damals hinter den Gewaltakten stand, fordert seit Jahren ultimativ den Bau eines Hindu-Tempels zu Ehren des Gottes Ram, der vor Urzeiten dort in Ayodhya geboren sein soll.

Streit wegen Götter-Mythen

Auf dem Moschee-Grundstück stand, so behaupten sie, früher ein Ram-Tempel, den die islamischen Eroberer Indiens einrissen. Der heftige Streit, der zu einem kaum entwirrbaren Knäuel von juristischen Verfügungen geführt hat, wird vom VHP immer neu angeheizt. Die Regierung hatte das angrenzende Grundstück erworben; das Oberste Gericht Hindu-Rituale darauf verboten.

Der VHP schert sich einen Deut um die Rechtslage und fordert die Übergabe des Grundstücks für einen Tempelbau bis zum 23. Februar. Die radikalen Hindus werden von der Hindu-Partei BJP, die auf Unionsebene die Regierungskoalition führt, nicht in die Schranken gewiesen. Denn die BJP ist dem VHP für ihren letzten Wahlerfolg im unruhigen Gliedstaat Gujarat zu Dank verpflichtet – allein die anti-muslimische Massen-Agitation des VHP scharte im Dezember die Hindu-Wählermehrheit hinter der BJP, deren Regierung in zentralen Belangen versagt hatte. ‚Ayodhya‘ bindet Emotionen und steht der Bewältigung der viel grösseren sozialen Probleme des Riesenlandes im Weg.

Ein Vermittler, der nicht neutral ist

In den letzten Wochen hat sich einer der landesweit geachtetsten Hindu-Priester, der Kantschi Sankaratscharya Jayendra Saraswathi, aufgemacht, den explosiven Konflikt um Ayodhya zu entschärfen. Den Auftrag dazu gab ihm niemand, aber in Indien, wo die führenden Hindu-Priester zur nationalen Prominenz gehören, erregt das wenig Kritik. Saraswathi traf VHP-Führer und am Dienstag auch Premierminister Vajpayee.

Das Oberste Gericht hatte im letzten Jahr alle religiösen Aktivitäten in Ayodhya untersagt, um blutige Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen zu verhindern. Das Gericht will mit Radar-Untergrund-Messungen herausfinden, ob überhaupt je ein Hindu-Tempel auf dem Gelände stand.

Welche Instanz, wenn nicht das Oberste Gericht?

Führer des VHP stellen jedoch die Zuständigkeit des Gerichts in Abrede und drohen nicht zum ersten Mal in bekannt faschistischer Manier mit dem Aufmarsch ihrer Anhänger. Der VHP-Generalsekretär Praveen Togadia lehnte am Mittwoch eine gerichtliche Regelung erneut ab. Die Regierung müsse bis am Abend des 23. Februar einen politischen Entscheid zugunsten der Hindus treffen und ihnen das Land geben; sonst werde sie es mit wütender Massen-Agitation zu tun bekommen.

Die politischen Parteien, am schärfsten die linke Opposition, weisen diese Drohungen zurück. Dass nun die Regierung mit ihrem Gesuch, das eine rasche Behandlung der Forderungen anstrebt, dem Druck der fanatischen Hindus nachgibt, wird im Land mit Befremden registriert. Justizminister Arun Jaitley sagte, die Regierung habe keine andere Möglichkeit, um eine offene Konfrontation zu verhindern. Der indische Rechtsstaat ist vielleicht mehr denn je in Gefahr, durch Fanatiker ausgehebelt zu werden.

Datum: 08.02.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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