Interview

„Eine Gesellschaft von Individuen auf der Suche nach Heimat“

„Schweizer Religionslandschaft im Umbruch“ titelt das Bundesamt für Statistik (BFS) die aktuellste Auswertung der Volkszählung 2000, die gestern der Presse in einem Communiqué mitgeteilt wurde. Für die christlichen Kirchen ist das Fazit ernüchternd: Die beiden grossen Landeskirchen verlieren gegenüber 1990 massiv an Mitgliedern. Die evangelischen Freikirchen stagnieren. Demgegenüber beträgt der Anteil der Konfessionslosen an der Wohnbevölkerung über 11 Prozent. Ebenfalls markant gewachsen ist die Zahl der Angehörigen von islamischen Glaubensgemeinschaften. Markus Döbeli arbeitet beim Bundesamt für Statistik (BFS) in Neuchâtel. Im Rahmen der Volkszählung ist er im Bereich Kommunikation in verschiedenen Projekten engagiert. „Livenet“ hat ihn zum Thema interviewt. Döbeli legt Wert die Feststellung, dass er nicht die Meinung des BFS wiedergibt, sondern seine Sicht erläutert. Livenet:
Markus Döbeli vom Bundesamt für Statistik.

Laut den Zahlen der Volkszählung hat sich die Zahl der Muslime in den vergangenen Jahren verdoppelt. Die verschiedenen muslimischen Gemeinschaften zählen heute 311’000 Personen. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Markus Döbeli: Die grösste muslimische Gruppe in der Schweiz bilden heute die Albaner aus dem Kosovo und Mazedonien. Diese Menschen definieren sich in erster Linie über ihre sprachlich-ethische Zugehörigkeit und weniger über ihre Religion. Die Gründe für diese Zunahme liegen im Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und den damaligen Kriegswirren in diesen Ländern. Zahlenmässig seit 1990 ebenfalls stark gewachsen sind die Angehörigen der christlich-orthodoxen Kirchen. Es gibt andere Zahlen die für Christen alarmierender sind.

Welche und wieso?

Die beiden grossen Landeskirchen verzeichneten in den vergangenen 10 Jahren einen Rückgang von 363’000 Personen und auch die evangelischen Freikirchen stagnieren. Auch das Wachstum einzelner christlicher Gruppen kann nicht über diese Fakten hinwegtäuschen. Dahinter stehen Probleme die angegangen werden müssen.

Wo liegen dann die Probleme?

Gesellschaftlich gesehen gibt es keine gemeinsamen Werte mehr. Wir leben im Zeitalter des Pluralismus, wo jede Gruppe für sich definiert, was „in“ und was „out“ ist. In diesem Klima boomt auch der „Supermarkt der Religionen“. Jeder holt sich das aus dem Ladengestell, was er für seine momentane Lebenssituation gerade zu benötigen glaubt. Wenn einem der christliche Glaube nicht mehr mundet, dann wird er mir einer Prise Buddhismus abgeschmeckt. Glaube wird zu einem Konsumartikel. Ein Teil dieser Leute bezeichnen sich zwar immer noch als Christen, werden in der Statistik aber nicht mehr als Christen gezählt. Sie definieren sich als Individuen und nicht mehr als Teil einer christlichen Kirche. In der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung gibt es immer mehr religiöse Individualisten. Man könnte sie auch als religiöse Nomaden bezeichnen.

Nomaden – wie meinen Sie das?

Als kleine Illustration dient der Verlauf eines Gesprächs auf einem Handy. Die erste Frage lautet immer: „Wo bist du gerade?“ Dann folgt die Antwort: „Ich bin gerade in ....“. Als Nomaden sind wir mit unserem Handy unterwegs und immer gezwungen, unseren „Standpunkt neu zu definieren“. Nomaden in der modernen Gesellschaft sind ständig auf der Suche nach einer neuen Oase, wo sie ihre Bedürfnisse befriedigen können. In diesen Oasen mauern sich die einzelnen Individuen hinter ihren eigenen Wertevorstellungen ein. Worte wie „Individualismus“ oder „Single“ sind zum Inbegriff unserer modernen Gesellschaft geworden. Wohin man will ist nicht immer so klar, aber man definiert seinen Standpunkt immer wieder neu. Eine Gesellschaft von Individuen auf der Suche nach Heimat.

Den Zahlen der Volkszählung muss man entnehmen, dass christliche Kirchen einem nicht unbedingt dieses Gefühl von Heimat vermitteln.

Das Gefühl vielleicht schon, aber offenbar nicht in jedem Fall eine feste Heimat. Ich stelle einfach fest, dass diese individualistische Haltung auch die christlichen Kirchen prägt. Der Glaube kreist oft um die Leute selbst und um ihre Bedürfnisse. Sicher ist es wichtig, dass man Bedürfnisse formuliert. Man darf aber nicht bei den Bedürfnissen stehen bleiben. Perspektive gewinnt das Leben durch eine andere Frage: Was will Gott für mein Leben? Jesus verspricht in der Bibel ein Leben in Fülle, denn wo Gott regiert, da entsteht im Leben eines Menschen ein Freiraum. Und in diesem Freiraum kann man sich individuell entfalten, wie Gott einem als Individuum gemeint hat – aber auch zum Nutzen für die Gemeinschaft. Aber Gemeinschaft ist mehr als eine einzelne Kirche.

Was meinen Sie damit?

Für mich bedeutet Gemeinschaft verbindliche Verankerung in einer Kirche am Wohnort. Ich halte nichts von sonntäglichem „Kirchentourismus“ ohne feste Verankerung in einer lokalen Gemeinde. Dies vorweg, um Missverständnisse auszuräumen. Mit Blick auf die Zahlen der letzten Volkszählung ist mein Wunsch, dass alle Christen über die Kirchenmauern hinweg die Einheit leben, um die Jesus gebeten hat: „Ich bete darum, dass sie alle eins seien. Dann wird die Welt glauben, dass du mich gesandt hast.“ Die Geschichte hat es immer wieder gezeigt: Wo Christen aus verschiedenen Kirchen in Jesus Christus zur Einheit zusammenfinden, da bewegt sich viel. Viel mehr als nur Zahlen in einer Statistik. Ich bin überzeugt: Eine verbindliche Einheit in Jesus Christus vervielfacht nicht nur die Zahl der Mitglieder in den verschiedenen christlichen Gemeinschaften. Es hat auch positive Auswirkungen auf den Glauben der einzelnen Christen. Mein Wunsch ist, dass diese Einheit in den Zahlen der nächsten Volkszählung sichtbar wird.

Datum: 31.01.2003
Autor: Bruno Graber
Quelle: Livenet.ch

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service