Das Jahr 2002: Die Würde des Menschen und das Treiben der Mächtigen

Sklaverei
Kindersoldat
Indonesien
Der indonesische Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie
Frauen in Afghanistan
Pakistanische Christen feierten unter scharfen Sicherheitsmassnahmen Weihnachten
Indien

Es gab auch in diesem Jahr Lichtblicke im Kampf gegen Machtmissbrauch und Sklaverei und für die Würde des Menschen, dem globalen Ringen, für das Jesus von Nazareth einst mit seinem Wirken als Wanderprediger die Initialzündung gab. Christen stehen ein für Gerechtigkeit, den Grundwert des Reiches Gottes, das Jesus verkündigte. Weil sie Gottes Herrschaft erwarten, lassen sie sich nicht knechten von den Mächtigen der Welt. Die Spannung zwischen der erbarmungslosen Herrschsucht der Mächtigen und dem Lebenswillen der Unterschichten ist in Asien besonders dramatisch.

In den meisten Staaten stellen die Nachfolger von Jesus Christus eine kleine Minderheit der Bevölkerung; in vielen Kulturen werden sie angefeindet, wenn sie öffentlich wirken. Vermehrt treten die Anhänger anderer Religionen intolerant auf und greifen zur Gewalt: Buddhisten in Sri Lanka, Muslime in Pakistan und Indonesien, Hindus in Indien. Das Ringen der Christen um Toleranz, um Lebens- und Wirkungsräume ist eine von vielen Facetten des rasanten Wandels auf dem bevölkerungsreichsten Kontinent. Auch Kämpfer für die Bürgerrechte und Umweltschutz-Aktivisten werden von den Behörden verfolgt, ebenso wie Leiter von staatlich nicht anerkannten religiösen Gruppen. Einige Schlaglichter:

Weihnachtsgeschenk im Kampf gegen Kindersoldaten

Am 23. Dezember haben die USA das Protokoll zur UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, das die Rekrutierung von Minderjährigen für bewaffnete Konflikte mit wenigen Ausnahmen verbietet. Weiter hält es fest, dass Jugendliche unter 18 Jahren nicht kämpfen dürfen. Die USA hatten dieser Bestimmung des Protokolls lange Widerstand entgegengesetzt. Laut einem Bericht von UNO-Generalsekretär Kofi Annan nehmen Kinder vor allem in fünf Ländern an Kämpfen teil: in Liberia, der Demokratischen Republik Kongo, Burundi, Somalia und Afghanistan. Weitere Länder mit vielen Kindersoldaten sind Burma, Kolumbien und Norduganda. Nach Schätzungen gibt es weltweit 300'000 Kindersoldaten in über 20 kriegerischen Konflikten. Das Protokoll, von der UN-Generalversammlung im Mai 2000 verabschiedet, ist von 111 Ländern unterzeichnet worden.

Indonesien: Kommt Sulawesi zur Ruhe?

Vor vier Jahren, im Dezember 1998, entluden sich die Spannungen zwischen Muslimen und Christen in der Region Poso im Herzen der indonesischen Insel Sulawesi erstmals in Gewalttaten. Der Auslöser war ein Streit unter Jugendlichen. Seither sind in der Region in einem Teufelskreis von Gewalt und Vergeltung schätzungsweise 1'000 Personen umgekommen und über 100'000 Menschen von ihren Wohnorten vertrieben worden.

Die andauernde Gewalt ist laut einem neuen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) eine direkte Folge der Untätigkeit der indonesischen Regierung.

Mitte 2001 kamen Kämpfer der Laskar-Jihad-Miliz – zuvor hatten sie Christen aus Teilen der Molukken-Inselgruppe vertrieben – nach Sulawesi. Die einheimischen Muslime hiessen sie willkommen, da sie sich von der Polizei nicht wirksam beschützt fühlten. Die Behörden hinderten die Laskar-Jihad-Kämpfer nicht an den Angriffen auf Dörfer von Christen. Schiessereien, Bombenanschläge und Attacken wurden selten geahndet; dies droht die Friedenserklärung, die vor einem Jahr, im Dezember 2001, nach einer internationalen Gebetsoffensive unterzeichnet worden war, zu entwerten.

Die Jihad-Kämpfer konnten auch nach dem Waffenstillstand in der Region bleiben. Die Gerichte auf Sulawesi fällten in einer zirkusartigen Atmosphäre mehrere fragwürdige Urteile, was die Emotionen anheizte. Der Asien-Direktor von HRW stellte sich bei der Vorstellung des Bericht kritisch zum Willen westlicher Regierung, die indonesische Armee im Kampf gegen Terroristen zu stärken: „Die Armee ist nicht einmal imstande, Konflikte in verschiedenen Teilen des Landes zu kontrollieren.“ Daher seien nicht mehr Waffen und Training die Lösung; dringlich sei eine Reform der Armee selbst.

Seit dem verheerenden Terroranschlag auf Bali am 12. Oktober steht die Regierung in Jakarta unter massivem ausländischem Druck, die Netzwerke der Terroristen zu zerschlagen. Doch erforderten regionale Konflikte, die mit Religion zu tun haben, noch mehr Aufmerksamkeit als diese Netzwerke, sagte der Leiter von Human Rights Watch vor den Medien. Denn diese Konflikte stellten zum einen eine direktere Gefahr für Demokratisierung und Frieden in Indonesien dar; zum anderen könnten die Islamisten im sozialen Chaos besser Kämpfer rekrutieren. (In der Region Poso auf Sulawesi soll es ein Ausbildungslager von Islamisten in Verbindung mit al-Qaeda gegeben haben.)

Nach dem Anschlag auf Bali, der nicht dem Laskar Jihad angelastet wurde, erklärte die Organisation ihre Auflösung. HRW forderte die Regierung in Jakarta im Dezember auf, durch glaubwürdige Untersuchungen und die Bestrafung von Tätern deutlich zu machen, dass Milizen keinen Staat im Staat errichten dürfen. Beobachter der Szene befürchten, dass ehemalige Miliz-Kämpfer nach Jahren des Kampfs nicht ins bürgerliche Leben zurückkehren wollen.

Osttimor: Erstes Urteil gegen indonesischen Offizier

Das Sondergericht in Jakarta, das über die schweren Menschenrechtsverletzungen in Osttimor urteilen soll, hat am Freitag zum ersten Mal einen Offizier schuldig gesprochen. Ein Oberstleutnant der Streifkräfte wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er während der Loslösung Osttimors von Indonesien 1999 einen Angriff von Milizen auf das Haus von Bischof Carlos Ximenes Belo nicht verhindert hatte. Dabei waren mindestens 15 Personen zu Tode gekommen.

Kurz zuvor hatte Human Rights Watch das Gericht in Jakarta scharf kritisiert, weil es die Verantwortlichen für die Gräueltaten auf Osttimor nicht zur Rechenschaft ziehe. Es habe bloss über zwölf Angeklagte verhandelt und zehn von ihnen freigesprochen. Neun von ihnen waren indonesische Armeeangehörige und Polizisten. Die beiden, die das Gericht schuldig sprach, waren Osttimoresen!

Im Dezember unterzeichneten die indonesische Regierung und die Separatistenbewegung der nordwestlichen Grenzprovinz Aceh in Genf ein Friedensabkommen. Damit wird einer der härtesten Konflikte Südostasiens vorläufig entschärft. Die Umsetzung des Abkommens wird nur gelingen, wenn die indonesischen Behörden von willkürlichen Verhaftungen und Gewaltakten Abstand nehmen und die Menschenrechte respektieren. In der Provinz Aceh sind in den 90er Jahren etwa 10'000 Personen getötet worden.

Überhaupt nicht frei: Afghanistans Frauen ein Jahr nach dem Ende des Taliban-Regimes

Vor einem Jahr wurde das Joch des Taliban-Regimes zerbrochen. Der Wiederaufbau hat begonnen – und harzt. Vor allem im Westen Afghanistans, im Machtbereich des Regionalfürsten Ismail Khan, werden Mädchen und Frauen grundlegende Rechte vorenthalten. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet, dass Ismail Khans Beamte Frauen einschüchtern, die sich für die Bildung von Mädchen einsetzen. Die Möglichkeiten von Frauen auf dem Arbeitsmarkt wurden eingeschränkt. Viele Frauen werden belästigt und missbraucht. Die Behörden in Khans Regierungssitz Herat forderten Knaben auf, ‚unislamisches‘ Verhalten von Mädchen in der Schule zu melden.

Frauen, die allein mit Männern gesehen wurden, wurden verhört. Wenn ihre Gesprächspartner nicht mit ihnen verwandt waren, wurden sie regelmässig verhaftet. Die Frauen wurden in Spitäler gebracht und Ärzte zu Untersuchungen gezwungen, um herauszufinden, ob die Ledigen noch Jungfrauen waren! Ismail Khan habe eine Atmosphäre geschaffen, in der Beamte und Bürger meinten, sie dürften jeden Aspekt des Lebens von Frauen und Mädchen überwachen bis hin zur Redeweise, sagte eine HRW-Mitarbeiterin. Durch die Unterstützung Khans und anderer Regionalfürsten, die die Bevölkerung unterdrückten, habe die internationale Gemeinschaft ihr Versprechen, den Frauen und Mädchen Afghanistans die Freiheit zu bringen, gebrochen.

In vielen Gegenden Afghanistans setzen Polizei und Sicherheitskräfte noch immer Anordnungen aus der Taliban-Zeit durch: Musik ist verboten. Frauen und Teenager werden gezwungen die Burqa, den Vollschleier, zu tragen. Im Verlauf des Jahres 2002 wurden Mädchen-Schulen in mindestens fünf Provinzen Afghanistans durch Raketenbeschuss oder Brandstiftung zerstört.

Im November hatte die Menschenrechtsorganisation in einem ersten Bericht das brutale Vorgehen von Ismail Khans Sicherheitskräften gegen politische Gegner, Häftlinge und ethnische Minderheiten belegt. Von Religionsfreiheit im geplagten Land am Hindukusch kann (noch) keine Rede sein.

Anschlag zu Weihnachten: vier Mädchen in Pakistan getötet

Die meisten Ungerechtigkeiten, die alltäglichen Schwierigkeiten, die Christen – wie andere Minderheiten – in den Ländern Asiens erdulden, bleiben verborgen. In die Öffentlichkeit gelangt sind die Anschläge auf Kirchen und christliche Einrichtungen in Pakistan.

Der Handgranaten-Anschlag auf eine protestantische Kirche in Daska in der pakistanischen Provinz Punjab am ersten Weihnachtstag kostete vier Mädchen das Leben. 16 Personen wurden verletzt. Die Provinzregierung schickte in der Folge Sicherheitskräfte, um Ausschreitungen zu verhindern, wie die Tageszeitung ‚Dawn‘ berichtete. Am Freitag protestierten Hunderte von Christen friedlich gegen die terroristische Gewalt. Ein Minister der Zentralregierung reiste an den Ort des Anschlags und versprach den Hinterbliebenen eine Entschädigung. Wie andere Politiker verurteilte auch der Parlamentsvorsitzende Chaudhry Ameer Husain den Anschlag.

Ein Sprecher der oppositionellen Pakistan People's Party (PPP) beklagte die „schändliche Gewalttat gegen eine religiöse Minderheit“. Die Liste von feigen Anschlägen auf die Christen im Jahr 2002 sei schmerzlich lang. „Sie zeigt an, dass das Regime seine grundlegende Verantwortung zum Schutz von Leben, Ehre und Eigentum der Bürger des Landes, besonders der schwächeren und verletzlichen Teile der Gesellschaft, in krimineller Weise vernachlässigt“.

Verschärfte Sicherheitsvorkehren – zu spät

Sechs Personen wurden von der Polizei verhört, darunter Maulvi Afzal, Vorbeter in der Moschee im Dorf, wo der Anschlag erfolgte. Einer der beim Anschlag verletzten Gläubigen hat Afzal angeklagt, mehrfach zur Ermordung der Christen aufgerufen zu haben. Ob Afzal der islamistischen Kampforganisation Jaish-i-Muhammad angehört, war vorerst nicht klar.

Der Regierungschef der Provinz Punjab ordnete am Freitag die verstärkte Bewachung aller Kirchen und weitere Sicherheitsmassnahmen an. Er bezeichnete den Anschlag als eine Verschwörung gegen die Einheit von Muslimen und Christen und als weiteren Versuch, Unsicherheit im Land zu verbreiten.

Indien an der Wegscheide

Indien, die ‚grösste Demokratie‘ der Welt, geht dramatischen Zeiten entgegen. Im Gliedstaat Gujarat hat sich die Hasskampagne gegen Muslime und Christen für den extremen Hindu-Politiker Narendra Modi ausgezahlt: Der BJP-Politiker errang bei den Parlamentswahlen einen Triumph, indem er in der Hindu-Wählerschaft unsinnige Ängste vor den Muslimen und den Christen (kleine Minderheiten) schürte und die Muslime als Handlanger des feindlichen Nachbarn Pakistan verteufelte.

Damit ist die freiheitliche Ausrichtung des gesamten indischen Staatswesens in Frage gestellt. Die indische Verfassung bestimmt die Union, das Riesenland mit einer unübersehbaren Vielfalt von Kulturen und Religionen, als einen säkularen Staat, in dem alle Gemeinschaften ihren Platz haben und gleiche Rechte geniessen. In Gujarat ist dies nicht mehr der Fall. Die Muslime wurden durch den Terror von Strassenbanden fanatischer Hindus seit März in zahlreichen Städten in Ghettos verbannt; viele sind in andere Gliedstaaten Indiens weggezogen, nachdem sie Hab und Gut verloren hatten. Den Christen hat Modi ein Gesetz in Aussicht gestellt, das Verkündigung und diakonische Arbeit weiter einengen wird.

Solidarität statt religiöser Hass

Der Sieg Modis mit Hassparolen könnte auf andere Hindu-Politiker ansteckend wirken. In fünf Gliedstaaten Indiens stehen 2003 Parlamentswahlen an. „Wenn Gujarat in ein anti-muslimisches Inferno verwandelt werden konnte, gibt es keinen Grund, dieselbe Taktik nicht auch anderswo zu versuchen“, schreibt der Kolumnist Kuldip Nayar. Bereits hat der BJP-Parteipräsident Naidu angekündigt, die BJP (die zuvor bei Wahlen massiv verloren hatte) und ihre Verbündeten in den Hindu-Massenorganisationen würden den Sieg von Gujarat zu wiederholen suchen.

„Indiens radikale Hindus blasen zum Angriff“, titelte die NZZ im November, nachdem fanatische Hindus den als gemässigt geltenden BJP-Premierminister Vajpayee immer schärfer angegriffen hatten. Der Welt-Hindu-Rat (VHP) will um jeden Preis einen Hindu-Tempel auf einem umstrittenen Gelände in Ayodhya in Nordindien bauen und torpediert dafür den Rechtsstaat. Die Scharfmacher in der BJP mit dem indischen Innenminister Advani an der Spitze haben Rückenwind. Die Zeichen stehen auf Sturm.

Die Christen in Indien stehen unter dem Druck der Fanatiker zusammen. Seit 1998 ist der All Indian Christian Council AICC mit dem OM-Leiter Joseph D’Souza und dem Bürgerrechtler John Dayal an der Spitze die Stimme der Christen, von der katholischen Kirche über alteingesessene Kirchen bis hin zu neuen evangelischen Verbänden. Miteinander und mit anderen bedrückten Minderheiten treten die Christen für eine Gesellschaft ein, in der alle Menschen Chancen haben, sich zu entwickeln und ihre Rechte wahrzunehmen.

Quellen: Human Rights Watch, diverse Zeitungen

Datum: 29.12.2002
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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