Das Jahr 2002 in der Schweiz: Vertrauen ist kostbar

Expo 02 Pavillon "Qui"
Rütli 02
Schwarzer Sonntag für das Leben
Tariq Ramadan

Die Schweizer gehören nach eigenem Bekunden zu den glücklichsten Völkern der Welt. Nach den Katastrophen des Vorjahrs blieb die Schweiz im Jahr 2002 von schrecklichen Schlägen verschont. Trotz starker Regenfälle gab es ausser den Schlammlawinen im November keine grösseren Naturkatastrophen. Die Swiss flog, und die Expo.02 fand ihre Besucher. Doch bröckelte auf vielen Ebenen die Grundlage des gemeinsamen Wohlbefindens: das Vertrauen.

Vertrauen und Kreativität

Vertrauen ist die Voraussetzung für Kreativität. Kreativität schafft Durchbrüche, wenn sich Probleme und Herausforderungen häufen, und dann auch Erfolg im globalen Wettbewerb. Ohne Vertrauen harzt die Wirtschaft, ohne Zutrauen versauern die Menschen.

Vertrauen gründet auf Verlässlichkeit. Für alle sichtbar zerfiel das Vertrauen in die Manager. Die Abzockerei von Barnevik und Konsorten, die Selbstgerechtigkeit eines Selfmademan namens Hüppi, die Frechheiten der Chefs der Rentenanstalt: Sie kosten viel, schlagen nicht nur Aktienkurse und Dividenden zu Boden, sondern auch den Goodwill der Bevölkerung. Wie bekommen wir gute Manager? Reicht es (wie eine Denkerin vorschlug), in der Schule Ethik und Philosophie zu unterrichten? Wohl kaum.

Wohlfühl-Falle?

Im Gesundheitswesen trauen die Haupt-Akteure einander nicht; die Politiker mögen sich nicht zusammenraufen zu zielführenden Massnahmen, und die Kosten explodieren weiter. Der Nationalrat hob den Vertragszwang für Ärzte im Gesetz nicht auf, weil er die Macht der Krankenkassen im Gesundheitsmarkt nicht vergrössern wollte. Die Anreize, sparsam mit dem hochstehenden Angebot umzugehen, sind zu klein. Herr und Frau Schweizer werden im Durchschnitt älter; unter Ruth Dreifuss hat der Bund die Leistungen der Grundversicherung ausgeweitet. Um den gordischen Knoten zu durchhauen, müsste der neue Departementsvorsteher Couchepin einen Mentalitätswandel einleiten. Wollen das die Wohlfühl-Schweizer?

Vertrauen in Gott lohnt sich: Gebetstage auf dem Rütli und in Huttwil

Am Karsamstag 30. März war auf dem stillen Urnersee plötzlich viel los: Über 2000 junge Schweizer Christinnen und Christen fanden sich auf dem Rütli ein für einen Gebetstag. Sie sagten bekenntnishaft Ja zu Gottes Bund mit der Schweiz. Diesen Bund sehen die Initianten im Willen Gottes begründet, das Land mit Gutem zu segnen. 1291 sagten die Vertreter der Urkantone Ja - so die Einladung zum Gebetstag ‚rütli.02' -, nun sollten es ihnen die Jugendlichen gleich tun: Ja sagen zu einem Leben nach den Vorgaben Gottes, in der Abhängigkeit von Christus, mit der Erwartung, dass daraus Gutes entsteht für die Gesellschaft und das Gemeinwesen. Die Initianten waren überrascht von der Zahl der Christinnen und Christen, die aus allen Kantonen aufs Rütli kamen und sich miteinander auf das Leben mit Christus verpflichteten.

Am 1. August, dem Nationalfeiertag, sammelten sich 6'000 Gläubige, darunter 500 Kinder, in Huttwil zum Gebet für die Schweiz. Sie beteten aufgrund von Berichten aus diversen Bereichen der Gesellschaft für positive Veränderungen im Land. Eingeladen hatten der Arbeitskreis "Gebet für die Schweiz" und andere Gebetsbewegungen. Die Moderatoren luden die Teilnehmenden ein, auf positive Weise für Verantwortungsträger und Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu beten. Ein Pastor aus Uganda erzählte von grossen Veränderungen, die anhaltende Gebete von vielen Kirchgemeinden im ostafrikanischen Land bewirkt hätten. Uganda verzeichne einen wirtschaftlichen Aufschwung und die Aidsrate sinke.

Lebensschutz pragmatisch abgebaut

Die schwächsten Glieder der Gesellschaft müssen auf die umfassende Fürsorge der Starken zählen können; ohne dies kann sich eine Gesellschaft nicht christlich nennen. Mit der Fristenlösung vom 2. Juni 2002, von den Eidgenössischen Räten vorgeschlagen und den Stimmbürgern genehmigt, hat sich der Staat aus einem der sensibelsten Bereiche zurückgezogen: Er überlässt es der Schwangeren, über Leben und Tod ihres werdenden Kindes zu entscheiden. Die Beratungspflicht, wie Deutschland sie hat, fiel in den Räten durch. Eine Gummibestimmung erleichtert die Abtreibung auch nach der 12. Woche. Nun hat die Schweiz eine der ‚liberalsten' Regelungen europaweit.

So pragmatisch die Politikerinnen und Politiker argumentierten (die ungleiche Praxis der Kantone war stossend) - nach langem Ringen obsiegte die existentialistisch-extreme Fiktion der autonomen, nur sich selbst verantwortlichen Frau. Überfordert oder nicht, die Schweizer Frauen und ihre Männer werden damit leben müssen. Nicht nur im Bundeshaus, auch im Volk hatte die Initiative "für Mutter und Kind" keine Chance. Plakate, Inserate und Appelle nützten nichts. Auch in konservativ gestimmten Landesteilen und Bevölkerungsschichten hat der Wind seit den 70er Jahren gedreht; dies mussten Lebensschützer mit Schmerzen zur Kenntnis nehmen. Die Analyse des Urnengangs ergab, dass die praktizierenden Christen als einzige Gruppe die ‚Fristenlösung' klar ablehnten. Der 2. Juni hat gezeigt, definitiv: Diese Gruppe ist eine Minderheit.

Der kanadische Kinderpsychiater Philip Ney hat dargelegt, dass nicht bloss bei der Schwangeren psychische und körperliche Leiden zunehmen werden (Post Abortion Syndrome PAS). Infolge der Freigabe der Abtreibung schleicht sich verstärkt ein abgründiges Misstrauen in die Familie - und auch ins Gemeinwesen - ein: Kinder stehen vor der Frage, ob ihre Eltern einmal überlegt haben könnten, auch sie abzutreiben. Und sie finden keine Antwort auf die Frage, warum sie - nur sie - leben durften. Dem Staat zu vertrauen, der das werdende Leben nicht schützt, fällt angesichts anderer Bedrohungen des Lebens schwerer.

Und Menschen aus anderen Kulturen?

Mit dem 11. September 2001 ist im ganzen westlichen Kulturraum die Zuversicht, Muslime umfassend integrieren zu können, nachhaltig erschüttert worden. Misstrauen trat an die Stelle der früheren Blauäugigkeit gegenüber engstirnigen und abgeschotteten Gruppen. Die Romandie wurde im Herbst aufgeschreckt durch die Stellungnahme des Leiters des Islamischen Zentrums in Genf, Hani Ramadan. Dieser verteidigte die Steinigung als islamische Strafe für Ehebruch und verlor in der Folge seine Lehrerstelle.

Hanis Bruder Tariq Ramadan, einer der bekanntesten Islam-Gelehrten Europas, legt in einem im Herbst erschienenen Freiburger Sammelband ‚Muslime und schweizerische Rechtsordnung' die Spannung zwischen dem islamischen und dem hiesigen Recht dar. Die westlichen Rechtsordnungen gäben den Rahmen ab, den islamische Rechtsgutachten für muslimische Europäer beachten müssten. Zugleich hätten diese ‚fatwa' "dem Respekt für die islamischen Vorschriften soweit wie möglich" nahezukommen. (Es gibt seit 1997 einen Europäischen Rat, der auf Anfragen hin solche Rechtsgutachten für Muslime abgibt.)
Dabei steht für den Islam-Gelehrten überhaupt noch in Frage, wie Europa, "der Westen", als Lebensraum von muslimischen Minderheiten zu bewerten sei. "Was ist unsere Identität und wie bestimmt sich unsere Zugehörigkeit?" Und von daher sei erst noch zu klären, wie sich die Muslime für ein säkulares, nicht durch den Islam geprägtes Europa einsetzen könnten: "La coexistence positive est-elle possible pour les musulmans d'Europe?"

Datum: 31.12.2002
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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