Ich-AG und Nächstenliebe

Wohin führt der Weg?

Trendforscher haben es zur Zeit nicht leicht. Waren die gesellschaftlichen Strömungen der 90er Jahre noch klar definier- und abgrenzbar, hat sich spätestens seit dem 11. September 2001 Unsicherheit breitgemacht. Die Gesellschaft befindet sich seither im Umbruch. Soziologen und Trendforscher beobachten und erspüren einen noch nicht klar beschreibbaren Gesinnungswandel. Neues zieht auf. Nichts ist mehr sicher. Keine Prognose kommt über vage Hypothesen hinaus. Es sind spannende Zeiten, in denen wir leben, und noch ist nicht klar, wie kommende Generationen die Anfangsjahre des neuen Jahrtausends etikettieren werden.

Offensichtlicher Trend: Angst

Die Angstfaktoren haben sich erhöht. 11. September, El Kaida, Erfurt, Überschwemmungskatastrophen, wirtschaftliche Rezession, Arbeitslosigkeit, Kriegspläne gegen den Irak, fallende Aktienkurse, steigende Steuerlasten – das alles zehrt an unseren Nerven. Die Zukunftsaussichten sind trübe. Die Sozialsysteme ächzen unter dem Druck der schiefen Bevölkerungspyramide. Die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte wird kommende Generationen in Atem halten. Da die Gesundheit zum höchsten Lebensideal geworden ist, wird auch jede noch so banale Krankheit zum Bedrohungsfaktor. Eine neue Form des internationalen Terrorismus lauert auch vor unserer Haustür. Beziehungskrisen in der Ehe, am Arbeitsplatz, in der Clique - die Zeiten sind ernster geworden. Die Leichtigkeit von gestern ist passé. Der Gürtel wird enger geschnallt, man kämpft mit härteren Bandagen. Die Deutschen, sowieso ein ängstliches Volk, schwimmen nun im Meer kollektiver Depressionen und Klagelieder. Deshalb schliesst die “Null-Risiko-Gesellschaft” immer mehr Versicherungen ab, verschliesst sich dem hemmungslosen Konsum, legt das Geld lieber auf die Seite. Vorsicht heisst die Mutter der Porzellankiste. Misstrauen, Argwohn, Verdrossenheit, Lähmung, Humorlosigkeit, hektischer Aktivismus – alles Stichworte und Beobachtungen der letzten Monate.

Was alles Zulauf hat

Parallel boomt der Markt der pseudoreligiösen Seelenfänger. Fundamentalistische Randgruppen schiessen wie Pilze aus dem Boden. Einfache Antworten auf komplizierte Fragen sind wieder “in”. Das Narkotikum einer mystischen Spiritualität lässt die Sorgen und Ängste für kurze Zeit vergessen. Differenzierte Standpunkte haben in Krisenzeiten keine Konjunktur. Schwarz-Weiss-Farben genügen. Ob radikalisierte Islamistengruppen, neokonservative Separatisten, endzeitliche Sektierer, ausgeflippte Klosterbrüder oder meditative Psychogruppen, – sie alle haben Zulauf zu verzeichnen. Sie versprechen Sicherheit, Geborgenheit, feste Regeln, überschaubare Abläufe, das “Heil”.

Der Rückzug aus der Welt in die meditative Kommune ist dabei aber eher die Ausnahme. Weiter verbreitet ist der innerliche Rückzug breiter Kreise in die Passivität und Nichteinmischung. Die Mentalität der Gleichgültigkeit bestimmt vielfach das öffentliche Leben. Man will in Ruhe gelassen werden und lässt andere in Ruhe. Wer sich engagiert, bekommt eins auf den Deckel. Deshalb lieber still halten, nicht auffallen, sich anpassen, normal sein.

Der Islam

Der Islam ist seit dem 11. September in den Fokus des Interesses gerückt. Politiker und Religionsexperten beteuerten sofort, das es sich um islamische Extremisten gehandelt habe, keinesfalls sei der Islam an sich militant. Auch manche Kirchenvertreter rauchten sofort die synkretistische Friedenspfeife und proklamierten den Schulterschluss mit den Muslimen. Man befürchtete Ausschreitungen in den eigenen Ländern. In der intensiven Debatte in den Folgemonaten kamen aber auch andere Zeugen zu Wort, die vor einer Islamisierung der westlichen Industriestaaten warnen. Mit Recht, denn der Islam hat längst Europa ins Visier genommen und als Missionsfeld entdeckt. In das Vakuum einer postchristlichen Religiosität stösst heute eine von sich überzeugte islamische Konkurrenz.

Null-Zoff-Generation

Entspannt, harmlos, normal – so gibt sich die Jugend des neuen Jahrtausends. Freundschaft und Gemeinschaft sind “in”. Die “Null-Zoff-Generation” sehnt sich nach Werten, Orientierung und Geborgenheit. Sie ist viel beschäftigt, technologisch auf dem neuesten Stand, teamorientiert, aber auch illusionslos, unpolitisch und oft ohne Träume und Visionen. Man quasselt, chattet und surft auf allen Kanälen, um nicht allein zu sein. Sensibel registriert man alle Veränderungen des Seins. Der Wert einer intakten Familie wird wieder höher eingeschätzt, auch gerade angesichts vieler Scheidungen und Ein-Eltern-Familien. Auch die Grosseltern haben wieder eine ungeahnte Autorität. Die Rebellion der 70er und 80er Jahre wird von dieser Jugend nur müde belächelt. Die Eltern haben doch schon gegen alles protestiert, was bleibt uns da noch? Selbst Polizisten gelten nicht mehr als “Scheissbullen”, sondern als Freunde und Helfer. Wohl behütet aufgewachsen haben sie sich gegen nichts zur Wehr setzen müssen. Eine neue pragmatische Naivität kennzeichnet breite Kreise der Jugendkultur.

Nach den Pisa-Studien stehen neue Experimente in Kindergarten und Schulen an. Leistung wird verlangt. Doch den Erfolgsdruck bemerken die Schüler schon heute. Guter Schulabschluss, Karriere, schönes Leben an einem festen Ort – das sind oft die einzigen Wünsche. Und das alles mit Netz und doppeltem Boden. Bildung wird gefordert. Charakterfeste Persönlichkeiten sollen aus dem Boden gestampft werden. Doch kaum einer weiss, wie das geht.

Das Ende der Spassgesellschaft?

Im Schock des 11. Septembers riefen einige Übereifrige schon das “Ende der Spasskultur” aus. Eine neue Nachdenklichkeit wurde von Trendforschern diagnostiziert. Mehr Tiefgang und Werteorientierung wurde beobachtet. Tatsächlich - kein Zweifel besteht daran, dass Tugenden und Werte wieder eine grössere Rolle spielen. Angesichts der fundamentalen Orientierungslosigkeit und eines bodenlosen Pluralismus verlangt der moderne Mensch nach Fixpunkten. Besonders in der Jugendkultur sind die “alten” Werte wieder gefragt: Pflichtbewusstsein und Sozialdienst, Leistung und Anstand, Benehmen und Rücksichtnahme. Purer Hedonismus und Egoismus sind “out”. Der Ruf nach Verbindlichkeit, Ehrlichkeit und gemeinsamen Werten wird lauter.

Aber man darf sich nicht zu früh freuen. Die Renaissance der “alten Werte” führte bisher nicht zu einem völligen Gesinnungswandel, sondern vielmehr zu einer sogenannten Gleichgewichtsethik. Die heutigen Zeitgenossen kombinieren mehrere Systeme: Leistung und Genuss; die Spende an “Brot für die Welt” und die Eventparty; Rücksichtnahme und Gemeinschaftserlebnisse mit egozentrischen Lebensstilen. Nicht das Ende der Spassgesellschaft, sondern Integration von Selbstverwirklichung und Nächstenliebe stehen auf dem Programm.

Das Ende der Volkskirchen?

Und die Kirchen 2003? 1949 waren über 90% aller Deutschen Mitglied der evangelischen oder der katholischen Kirche, heute sind es nur noch knapp 65%. In den neuen Bundesländern gehören nur noch 27% überhaupt irgendeiner Kirche an. Und selbst den Kirchenmitgliedern ist die Bindung an die Kirche häufig gleichgültig geworden. Von den 26 Millionen landeskirchlichen Protestanten finden sich sonntags nur noch gut eine Million zu den Gottesdiensten ein, das sind keine 4%. Jeder Verein, zu dessen Mitgliederversammlung so wenige Mitglieder erschienen, würde über seine Auflösung nachdenken. Bei den 18-30jährigen bezeichnen nur noch 8% ihre Bindung an die Kirche als “stark”. 12% aller Deutschen und 20% aller Kinder in Deutschland wissen nicht mehr, warum man Karfreitag oder Ostern feiert. Anfang Dezember konstatierte deshalb Klaus Harprecht in der “Zeit” über die religiöse Situation Deutschlands erschütternd ehrlich: “Der Tag ist nicht mehr fern, an dem einer Majorität der Deutschen das religiöse Fundament unserer Kultur so fremd sein wird wie das der Kulturen Altägyptens oder der Azteken.”

Und wie geht es weiter?

Aber Lamentieren allein gilt nicht. Wenn das Christentum vor 2000 Jahren wichtig war, dann ist es heute noch viel wichtiger. Angesichts einer mit Händen zu greifenden Orientierungs- und Sinnkrise der Moderne haben Christen nämlich eine besonders grosse Verantwortung. Es geht darum, den christlichen Glauben offensiv und mit Elan in die öffentliche Diskussion einzubringen. Unsere Zeit braucht nichts mehr als überzeugte Christen, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten, sondern sich in die Öffentlichkeit einmischen. Unsere krisengeschüttelte Kultur schreit nach Fundamenten und Werten, seien es Prinzipien für die Wirtschaft, das Arbeitsleben, die Familie, die Erziehung, die Bildung, die Politik, die Innere Sicherheit, die Ausländerproblematik, die Gesundheitsfragen usw. usw. – da haben Christen doch etwas zu sagen.

Den christlichen Glauben verteidigen

Kirchen und Gemeinden müssen die Apologetik wiederentdecken. Die Verteidigung des christlichen Glaubens gegen den Un- und Irrglauben war über viele Jahrhunderte eine Kernaufgabe aller christlichen Gruppen, wurde aber vor einigen Jahrzehnten aus Toleranzgründen gänzlich aufgegeben. Das hat sich gerächt. Heute, wo viele Christen selbst nicht mehr wissen, was sie eigentlich glauben, muss Apologetik wieder zum Kernpunkt christlicher Lehre und Unterweisung werden. Die Auseinandersetzung mit der religiösen und ideologischen Konkurrenz muss in Zukunft intensiver geführt werden. Christen sind seit dem 11. September herausgefordert, sich sachlich und objektiv auch mit den Grundlagen aller Religionen auseinanderzusetzen. Nur ein fundierter Glaube kann überzeugende Antworten geben. Nur ein bibelfester Christ kann anderen Alternativen bieten.

Mehr Leidensbereitschaft

Für Kirchen und Gemeinden muss in Zukunft gelten: Nicht die Anpassung an den sich ständig wechselnden Zeitgeist führt zu Vertrauen und Ansehen bei Gott und den Menschen, sondern die Durchdringung der Gesellschaft mit Gottes Willen und Gottes Werten. Das Christentum muss wieder erkennbar werden in unserer Gesellschaft. Die Konturen müssen klarer sein, das Profil neu hervortreten. Der moderne Mensch will Klarheit, Transparenz, kein Wischi-waschi-Christentum. Der christliche Glaube stellt alle Kulturen in Frage, auch die nachchristliche Kultur Deutschlands. Deshalb müssen die Unterschiede wieder deutlicher werden. Nur wer sich abhebt, wird heute noch wahrgenommen. Deshalb brauchet es mehr Mut und Leidenschaft, um gegen den Strom der Mehrheitsmeinung zu schwimmen.

Die Bibel 2003

Der Anker im Sturm der Meinungen ist und bleibt Gottes Wort, die Bibel. Sie muss wieder stärker ins Gespräch kommen. Das Bibeljahr 2003 bietet dafür eine prima Gelegenheit. Diese Bibel ist nicht nur ein kulturelles Dokument der Menschheit, sondern das lebensschaffende Wort unseres Schöpfers und Erlösers. Vor allem diese Nachricht sollte im Jahr mit der Bibel durchdringen. Sie gibt Antwort auf die letzten Lebensfragen, weil sie zu Gott führt. Und auch die Christenheit sollte 2003 die Bibel neu für sich entdecken und in ihrem Anspruch ernst nehmen!

Datum: 20.12.2002
Autor: Stephan Holthaus, Dr.
Quelle: idea Deutschland

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