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Der St. Galler Soziologe und Ökonom Christoph Maeder nahm den Faden in seinem Referat sogleich auf und bestätigte aus seiner Sicht, dass das Regime der Ökonomie sich durchsetzt und nahezu in alle Lebensbereiche einschreibt. "Wir finden heutzutage kaum mehr Ausschnitte der sozialen Ordnung, für die nicht Managementrezepte bereitgestellt, angewendet und auch akzeptiert werden."
Sie würden automatisch als die "Kategorie des kalkulierten Fortschritts" gesehen und der Legitimationspflicht enthoben, stellt Maeder kritisch fest. Mittlerweile weisen sich Krankenhäuser, Schulen, Sozialverwaltungen, ja gar Gefängnisse und Kindergärten als kundenorientierte Dienstleister aus.
"Weltweit wird ein Gesellschaftsmodell propagiert, das mit maximaler wirtschaftlicher Freiheit für die Unternehmungen und das Kapital zwangsläufig mehr Wohlstand und mehr persönliche Entscheidungsautonomie für alle verheisst." Gleichzeitig gebe es immer mehr "Null Toleranz" für Politiker, die wachsende Staatsquoten zulassen.
Dieser Aufbruch gegen historisch in langen Prozessen Gewachsenes zieht mehr Privatisierung, prinzipielle Beschränkung der öffentlichen Aufgaben und den Abbau des sozialen Versorgungswesens nach sich. Damit verbunden wird gebetsmühlenhaft individuelle Selbstverantwortung eingefordert.
Christoph Maeder zieht eine "gemischte" Bilanz dieser Entwicklung der letzten zehn Jahre. Als Beispiel nennt er die Privatisierung der Telekommunikationsindustrie: Rückblickend dürfe sie dort – abgesehen von der Kapitalvernichtung bei den UMTS-Lizenzen – in Europa als Erfolg betrachtet werden. Dasselbe Verfahren unterliege in öffentlichen Infrastrukturen Grossbritanniens jedoch bis heute einer kontroversen Einschätzung und habe in Argentinien verheerende Konsequenzen für die ganze Volkswirtschaft.
Die übertriebenen Managerlöhne in westeuropäischen Gesellschaften illustrierten jedoch, dass "Liberalisierung zunächst und vor allem nur eines bedeutet: die schnelle Produktion von extremer sozialer Ungleichheit." Nicht nur seien Fragen der Macht und der politischen Gestaltung bisher systematisch ausblendet worden.
Die Kehrseite der individualisierten Konsum- und Marktgesellschaft sieht Maeder vor allem darin, dass all jene "überflüssig" werden, die aus irgendeinem Grund aus dem Arbeitsmarkt fallen. Dies "kann heutzutage (fast) an jedem Punkt der sozialen Schichtung geschehen und umfasst in Europa durchschnittlich etwa 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung". Wenn ganze Industrien im Rahmen des globalen Wettbewerbs ihre Standorte an günstigere Orte verlegen, bleiben insbesondere jene zurück, die "nicht flexibel, mobil und hochleistungsfähig" sind.
Christoph Maeder skizzierte in seinem Vortrag die Dynamiken der menschlichen Verwundbarkeit in einer hyperökonomisierten Gesellschaft: "Zuerst gehen die Arbeit und der Tagesablauf verloren, dann das Beziehungsnetz, anschliessend die Gesundheit und schliesslich das Selbstvertrauen." Und das Fatale dran sei, dass dies mit den Systemen der Arbeitslosenversicherung geschehen kann. Die betroffenen Menschen werden zu Überzähligen und von materieller, kultureller und politischer Beteiligung ausgeschlossen.
Der Referent zeigte am Beispiel der USA, wo diese Entwicklung weit fortgeschritten ist, die Folgen: Dort sind mittlerweile offiziell 35 Millionen Menschen arm, was den doppelten bis dreifachen Armutsquoten europäischer Länder entspricht. Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist durch soziale Ausschlussmechanismen, die in den Arbeitsmärkten beginnen, "prekarisiert". Das heisst: Sie müssen in fragilen und meist sehr schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen leben. Diese bieten kaum soziale Integrations- oder gar Aufstiegschancen für die Betroffenen und deren Kinder.
Diese Fragilität wächst oft generationenübergreifend. In der Folge bildet sich eine so genannte Unterklasse mit sozialer Abweichung wie Kleinkriminalität der Kinder, Drogenhandel, Schwarzarbeit, Prostitution usw. Laut Christoph Maeder reagiert die USA zunehmend sicherheitspolitisch darauf: "Über das Strafrecht und insbesondere dessen dauernde Verschärfung wird reguliert, was nachhaltiger und gesellschaftsverträglicher in die Beschäftigungs-, Sozial- und Bildungspolitik gehört. Erst dadurch entsteht die Unterklasse und auch deren vermeintliche und tatsächliche Gefährlichkeit überhaupt. Es ist in dieser Lesart denn auch kein Zufall mehr, dass 1995 über 1,5 Millionen und 1998 bereits 2 Millionen Menschen in US-amerikanischen Gefängnissen inhaftiert waren."
Aber auch die "Noch-Integrierten" hier in Europa können sich nicht wirklich sicher sein, ist Maeder überzeugt: "Just-in-time-Organisation, Produktion auf Bestellung, unmittelbares Reagieren der Produktion auf wechselnde Marktlagen und die expandierende Einbindung in den globalen Wettbewerb gehören heute zu den unausweichlichen Imperativen wettbewerbsfähiger Unternehmen. Ein Teil dieser Flexibilität kann extern hergestellt werden, indem auf Zulieferer und freiwillig Teilzeitarbeitende zurückgegriffen wird. Doch dies reicht in aller Regel nicht aus."
Immer mehr müsse auch das eigene Personal diese wachsenden Anforderungen bewältigen, was es nur bis zu einem gewissen Grad kann. Zurück bleiben zwangsläufig jene, die den neuen Leistungsnormen – lebenslanges Lernen, hoch flexible Arbeitszeiten, weite Arbeitswege – nicht gewachsen sind.
Die Ökonomisierung kann für Christoph Maeder kein Allerheilmittel für die erwähnten Probleme sein. "Das Bild der Gesellschaft als einer Unternehmung mit seinen Bürgern eignet sich eben genau nicht dazu, die Komplexität moderner Gesellschaften zu verstehen, geschweige denn für deren Mitglieder positiv zu beeinflussen."
Und dort wo das ökonomische Modell "zur Richtschnur auch für politisches Handeln gerinnt", können die Ergebnisse kaum überzeugen. "Je mehr gesellschaftliche Bereiche unter dem Aspekt des Arbeitsmarktes als dem ewigen Tribunal über Erfolg und Misserfolg gedacht werden", schliesst der Soziologe, "desto mehr Menschen sind von sozialer Ausschliessung und Unterschichtung betroffen".
Dem informativen Referat schloss sich ein engagiertes Publikumsgespräch an. Als konkrete Auswirkung des ökonomischen Credos erwähnte die anwesende Zürcher CVP-Nationalrätin Kathy Riklin den derzeitigen "Sparwahn, in dem man nicht mehr von Inhalten reden kann". Viele waren sich einig, dass die Ökonomie zum Glaubensgebäude geworden ist und tatsächlich Züge einer Ersatzreligion aufweist. Und dieses individualistische "immer schneller, immer mehr (Geld)" sei offensichtlich so mächtig, dass es andere menschliche Erfahrungen zudeckt: Der Preis dieser vermeintlichen Freiheit ist Verlust von Liebe, Fürsorge, Sicherheit. Diese Werte wurzeln im Gemeinschaftsdenken; sie kommen im Ökonomischen nicht vor.