Was bewirkt Sozialethik in der Gesellschaft?

Hans Halter
Kathy Riklin

Sozialethik gibt ethischen Problemen eine Sprache, benennt sie und analysiert sie. Sie versucht zu begründen. Darin liegt das wichtigste Geschäft in der Ethik.

"Wenn nichts mehr hilft, hilft Ethik. Was bewirkt Sozialethik in der Gesellschaft?": Zu diesem Thema führte das Sozialinstitut der Katholischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) in Zürich eine Gesprächsveranstaltung zu seinem 40-jährigen Bestehen durch. Die Gäste: der Luzerner Sozialethiker Hans Halter und die Zürcher CVP-Nationalrätin Kathy Riklin.

"Auch für ein kleines Sozialinstitut geht es heute darum, mit Ethik ins Gespräch zu kommen, sie in die Politik und Öffentlichkeit hineinzutragen", betonte Institutsleiter Thomas Wallimann, welcher dieser "sozialethischen Denkstelle" seit vier Jahren vorsteht.

Ethik meint eigentlich Moral

Hans Halter, Sozialethiker an der Universität Luzern, führte in die Grundlagen der Sozialtethik ein. Man spreche heute fast nur noch von Ethik. Das mache sich viel besser als Moralin, obwohl die meisten Leute eigentlich Moral meinen. Halter definierte Sozialethik mit "verbindlichen Zielsetzungen und Grundhaltungen des Handelns, die innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft gelten und von ihr sanktioniert werden".

Da laufe es anders als beim Recht, wo das Geforderte notfalls mit Polizei oder Gefängnis durchgesetzt wird. Wer sich moralisch an die Regeln hält, sei anerkannt als anständiger Mensch; wer es nicht tut, werde geächtet. Hans Halter illustrierte den Unterschied am Beispiel von Wirtschaftsführern, die Millionen abzocken. Diese Praxis verstosse "nur" gegen die Moral, weil es in diesem Bereich erstaunlicherweise keine Gesetze gibt.

10.000 Franken pro Stunde

Dazu lieferte die zweite Referentin, die Zürcher CVP-Nationalrätin Kathy Riklin, konkrete Fakten. Daniel Vasella, Chef des Basler Pharmakonzerns Novartis, verdient rund 20 Millionen Franken jährlich, was einen Stundenlohn von ungefähr 10.000 Franken ergibt. Gleichzeitig erhält der durchschnittliche Mitarbeitende, der einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterstellt ist, bei Novartis rund 90.000 Franken im Jahr.

Ein anderes Beispiel ist Rolf Hüppi, der die Zürich Versicherungen beinahe zum Totalschaden führte. Trotzdem erhielt er eine Abgangsentschädigung von 6.2 Millionen Franken. Angesichts solcher Hintergründe mutet es zweifelhaft an, wenn Manager in Ethikseminare gehen und deren Ambiente geniessen.

Trotzdem nährt der gegenwärtige Boom der Ethikweiterbildungskurse Hoffnung. Kathy Riklin betont, dass es genügend Themen gebe: "Seit 15 Jahren scheinen wir in einem ethikfreien Wirtschaftsraum zu leben. Wir haben genügend Korruptionsskandale erlebt, wir kennen Bilanzfälschungen und Massenentlassungen."

Immer deutlicher wird, dass es auch in der Wirtschaft eine Moral braucht, die nicht da aufhört, wo sie dem Geschäft nicht mehr dienlich erscheint. Immerhin deuten die Bemühungen internationaler Konzerne, Ethikkodizes auszuarbeiten, darauf hin, dass sich die Wirtschaft ihrer Verantwortung allmählich bewusst wird. Ethik ist auch gefragt, wenn es um neue Fragestellungen ausgelöst durch die Stammzellenforschung, Gen- oder Klontechnologie geht.

Scheinheilige Moralisierung

Kathy Riklin führte ihre Zuhörer in den politischen Alltag. Sie zitierte Bundesrat Kaspar Villiger: "Eine Tendenz scheint zur Zeit die Sympathie vieler Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Es ist die Diffamierung des Staates und seiner Exponenten; die Tendenz auch zu einem wenig solidarischen Sozialdarwinismus und zu aussenpolitischer Isolation. Sie stellt Werte in Frage, welche die Willensnation Schweiz zusammenhalten. Dass sich Leute dieser Tendenz verschreiben, die sich besonderer Vaterlandsliebe rühmen, ist schwer verständlich."

Kathy Riklin erlebte als Nationalrätin in letzter Zeit eine Verschlechterung des politischen Klimas. Sie illustrierte ihre Erfahrung mit SVP-Inseraten, in denen die Schwächsten der Gesellschaft diffamiert und kriminalisiert werden. "Sozialschmarotzer, Scheininvalide" sind Schlagworte. Der Schwache hat nichts verloren in unserer Gesellschaft, der Starke soll gewinnen. Misstrauen wird gesät, Neid soll geweckt werden. Kathy Riklin: "Dass viele invalid wurden, weil sie die unangenehmen oder schweren Arbeiten unserer Gesellschaft machten, sagen die SVP-Werber mit keinem Wort."

Auch wehrlose Ausländer sind auf Wahlplakaten als Zielscheibe ideal: "Verhätschelte Kriminelle, schamlose Asylanten". Je mehr auffällige Ausländer, desto mehr Polemik und Wahlerfolg scheint möglich zu sein.

Und dieselben Leute pachten schamlos das Schweizer Kreuz für sich. Dazu noch einmal Kaspar Villiger: "Die scheinheilige Moralisierung der Politik bedeutet die Aufteilung in Gute, zu denen man gehört, und in Schlechte, die an den Pranger müssen. Das hat nichts mit meiner Forderung nach ethischem und verantwortungsvollem Handeln zu. Dieses scheinheilige Moralisieren vergiftet die Politik. Die Moralapostel sind selten die wirklichen Verantwortungsträger."

Was Sozialethik bewirkt

"Was bewirkt Sozialethik in der Gesellschaft?" Hans Halter brachte die Frage der Veranstaltung auf den Punkt: Sozialethik gibt ethischen Problemen eine Sprache, benennt sie und analysiert sie. Sie versucht zu begründen. Darin liegt das wichtigste Geschäft in der Ethik:

Behaupten, jenes sei schlecht oder gut, das können alle. Aber begründen, weshalb dieses oder jenes gut oder schlecht ist, das gelingt weniger oft. Angesichts fehlender Untersuchungen bleibt die Antwort laut Halter bescheiden. Sozialethik sei quasi unermesslich, und ihre Wirkung solle nicht überschätzt werden. Immerhin ist er überzeugt, dass klare Positionen und konkrete Aussagen in der Ethik vorteilhaft sind, weil sie das Gespräch herausfordern. Ethikerinnen und Ethiker können Einfluss ausüben, indem sie Politiker, Führungsleute und Organisationen beraten. In Ethikkommissionen mitwirken und sich in den Medien verständlich zu Wort melden, das seien weitere Wirkungsebenen. Aber "Bücher schreiben bringt nicht viel, ausser man macht es mit Harry Potter. Aber dies gelingt den wenigsten Ethikern", meinte Halter schalkhaft. Und schliesslich findet er die Gegenfrage ebenso bedeutsam: Welche Wirkung hat die Gesellschaft auf die Sozialethik?

"Die" Ethik gibt es nicht

Ethik ist eine philosophische und auch theologische Reflexion von Moral. Beim Individuum: Was ist gutes, richtiges Leben? Unter Mitmenschen: Welche Regelungen sind menschen- und sachgerecht? Das Problem, das die Sozialethik mit vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen teilt, ist, dass es "die" Ethik nicht gibt, sondern verschiedene Ansätze. Es gibt einander teilweise widersprechende inhaltliche Ethiken.

Immer wichtiger werden in einer pluralistischen Gesellschaft die Verfahrensethiken: Sie sagen, wie man zu Regelungen kommt. Ältere Ethiken gehen von Prinzipien wie Gerechtigkeit, Solidarität oder vom Liebesgebot aus. Oder sie berücksichtigen die Folgen des Handelns: Kommt Positives heraus, so wird es richtig sein. Oft fragt es sich indessen, für welche Betroffenen dies zutrifft. Manchmal verhält es sich wie beim Fussball: Das gleiche Spiel endet für die einen mit einem Riesenfest, für die andern mit einer Katastrophe. Die Probleme, sich auf eine Ethik zu einigen, gründen auf unterschiedlichen Menschenbildern, Lebenseinstellungen und Religionen.

Datum: 02.12.2003
Quelle: Kipa

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