Markt und Moral ein unversöhnlicher Widerspruch?

Es gibt eine schöne jiddische Anekdote zum Thema "Geld und Moral"". Ein Rabbi spricht mit seinem Sohn. Fragt ihn der Sohn: "Vater, wenn ich auf der Strasse ein Guldenstück finde, was soll ich dann tun?," Sagt der Vater zu ihm: "Du nimmst das Guldenstück und bringst es der Polizei. Dann giltst Du als ehrlicher Mensch, und deine Ehrlichkeit ist dein Kapital." Nach einer Weile fragt der Sohn wieder: "Vater, wenn ich auf der Strasse tausend Gulden finde, soll ich sie dann auch dem Schulzen bringen?" "Nein,", sagt der Vater, "natürlich nicht denn jetzt hast Du ja Dein Kapital und brauchst Deine Ehrlichkeit nicht mehr."

In dieser Geschichte stecken zwei Aussagen. Erstens: Moralische Tugenden können sich auszahlen. Insofern sind sie wie ein Kapital. Zweitens: Der Versuchung zum Reichtum halten moralische Tugenden möglicherweise nicht stand. Das Kapital verdrängt sie. Diese widersprüchlichen Aussagen sind durchaus geeignet, das generelle Verhältnis zwischen "Kapital und Moral“ zu beleuchten, und sie verdeutlichen darüber hinaus einige allgemeine Aspekte des Verhältnisses von Markt und Moral.

Der Markt selbst sorgt für eine gewisse Moral

In der eingangs erzählten Anekdote sagt der Rabbi: "Deine Ehrlichkeit ist Dein Kapital."' Das gilt immer für einen Markt. Er kommt nicht aus ohne Tugenden wie Wahrhaftigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Ehrlichkeit, und er belohnt auch solche Tugenden. Ich habe mit jungen Ingenieuren gesprochen, die in einem Maschinenbau-Unternehmen tätig sind. Sie erzählten vom Fall eines Konkurrenzunternehmens, das mit grossmäuligen Versprechungen Kunden anlockte und eine Zeitlang grossartige Geschäfte machte. Aber die Kunden merkten sehr bald, dass es dieser Firma nur um den kurzfristigen Profit ging. Sie wanderten zu anderen Lieferanten ab, und die betreffende Firma musste nach einigen Jahren Konkurs anmelden. Wenn der Wettbewerb funktioniert und die Kunden auf ihren Vorteil achten, dann kann sich offenbar Unwahrhaftigkeit und mangelnde Vertrauenswürdigkeit nicht sehr lange halten. Es ist also der Markt selbst, der für eine gewisse Moral sorgt.

Der Marktwirtschaft kann man auch noch in anderer Hinsicht moralische Qualitäten bescheinigen. Sie belohnt die Eigeninitiative und ist deshalb besser als andere Wirtschaftssysteme geeignet, zur Selbständigkeit zu erziehen. Sie bewirkt eine Kooperation von Menschen, die sich gar nicht zu kennen brauchen und die im Blick auf ihre Gesinnung und auf ihren Glauben sehr verschieden sein können. Schon bei der Herstellung eines relativ einfachen Produktes wie einem Fahrrad kooperieren zahlreiche Firmen - nicht deshalb, weil sie dazu von irgendeiner Behörde angehalten worden sind, sondern deshalb, weil sie alle einen Gewinn machen wollen und sich deshalb bemühen, immer genau das Produkt zu liefern, das ihre Kunden wünschen. Die "Kooperation"' ist also eine unbeabsichtigte und unbewusste Folge eines durchaus eigennützigen Handelns, und hier zeigt sich einer der grössten ethischen Vorzüge des Marktes: Er kann ein für alle besseres Ergebnis herbeiführen, ohne dass alle auf die Ziele des Gemeinwohls verpflichte! werden. Eigennütziges Verhalten steht nicht im Widerspruch zum Gemeinwohl, sondern wird vielmehr für die Verwirklichung des Gemeinwohls nutzbar gemacht.

Begrüssenswerte Handlungsfolgen

Mir scheint, dass diese Eigenschaft der Marktwirtschaft am meisten missverstanden wird. Man wirft ihr vor, sie stütze sich auf den Egoismus der Menschen, also auf ein unmoralisches Verhalten, und sei deshalb "strukturgewordene Sünde", wie man bisweilen von Theologen hört. Dabei wird übersehen, dass es nicht nur auf die Gesinnung von Menschen ankommt, sondern auch auf die Folgen ihres Handelns, und dass bei Geltung ganz bestimmter Regelungen auch aus einer eigennützigen Handlungsgesinnung moralisch begrüssenswerte Handlungsfolgen entstehen können.

Genau dies bewirkt die Regel des Wettbewerbs, wenn der Wettbewerb auf dem Boden einer verlässlichen Rechtsordnung ausgetragen wird. Dem Gemeinwohl dient es beispielsweise, wenn Firmen um möglichst rohstoff- und energiesparende Produktionstechniken konkurrieren, und zwar aus dem durchaus eigennützigen Interesse der Gewinnsteigerung. Der Markt zwingt sie dazu, insofern er die Verknappung von Rohstoffen und von Energie im steigenden Preis zum Ausdruck bringt.

Der ständige Appell an ein gemeinwohl-orientiertes Handeln bringt möglicherweise weniger Gemeinwohl zustande als ein System, das den Eigennutz duldet und ihn auf intelligente Weise für die Verwirklichung des Gemeinwohls nutzbar macht - den Eigennutz sozusagen überlistet, etwas zu tun, was gar nicht in seiner Absicht liegt. Das einzusehen, fällt insbesondere im Protestantismus sehr schwer, der eine lange gesinnungsethische Tradition hat. Aber wir sollten uns gegen diese Einsicht nicht sträuben.

Die Wettbewerbswirtschaft hat Vorteile: Sie regt die einzelnen zur selbstverantwortlichen Tätigkeit an, sie gibt Anreize zu einem sparsamen Gebrauch knapper Ressourcen, sie überfordert niemanden mit einem gemeinwohl-orientierten Verhalten. Aber sie hat zweifellos auch ihre Schattenseiten: Weil nicht jeder mit den gleichen Fähigkeiten und Gaben ausgestattet ist, führt die Freiheit zur selbstverantwortlichen Tätigkeit zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen.

Der eine ist ein begabter Ingenieur und Organisator. Er fängt damit an, in einem Keller Elektrogeräte zusammenzubauen. Vier Jahrzehnte später ist er Eigentümer eines Grossunternehmens mit fünftausend Beschäftigten. Der andere bleibt sein Leben lang ein armer Schlucker, oder er verliert sogar das Vermögen, das er einmal geerbt hat.

Ungleichheiten dieser Art gehören zum normalen Erscheinungsbild einer Marktwirtschaft. Sie lebt geradezu von diesen Ungleichheiten. Wollte man alle sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede einebnen, dann käme die Kreativität und die Dynamik einer Gesellschaftsökonomie vermutlich zum Erliegen. Aber die Ungleichheit muss Grenzen haben. Wir empfinden es zum Beispiel als unzumutbar, wenn die Reichen genug Milch haben, um ihre Katzen zu füttern, die Kinder der Armen aber leer ausgehen. Eine Marktwirtschaft bietet zwar vergleichsweise gute Chancen zu einer allgemeinen Wohlstandserhöhung, aber einen garantierten Schutz gegen individuelle Armut bietet sie gerade nicht.

Christsein in der Sozialen Marktwirtschaft

Bevor über das Handeln des Christen gesprochen wird, müssen wir allerdings vom Christ-Sein reden. Andernfalls geraten wir leicht in die Gefahr, zu einem bestimmten moralischen Aktivismus aufzurufen.

Ich will es auf einfache Weise so formulieren: Christen sind Menschen, die Christus vertrauen. Sie tun dies, indem sie auf Ihn hören, zu Ihm reden. Ob sie das tun, das ist nicht in erster Linie eine Frage des Wollens. Jeder von uns ist gefragt, ob er dem vertrauen will, der Menschen auf eine umfassende Weise geheilt hat und der von sich sagte: "Ich und Gott, der Vater, sind eins.“ Wer Christus vertraut, der wird auch diesem Vertrauen gemäss handeln.

Menschen mit Massstäben

Für den Bereich der Wirtschaft heisst das vor allem anderen: Er wird so handeln, dass deutlich wird, dass er den Sinn seines Lebens nicht im wirtschaftlichen Erfolg, nicht in der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und nicht im Besitz bestimmter Güter sieht. Er wird deshalb verzichten können: auf die Arbeit am Sonntag, auf den Besitz eines bestimmten Statussymbols (zum Beispiel in Form eines teuren Autos), auf die Durchsetzung des eigenen Machtanspruchs und so weiter. In diesem sehr persönlichen Bereich werden die Weichen dafür gestellt, ob wir im gesellschaftlichen und im politischen Bereich dem Vertrauen zu Christus gemäss handeln können.

Für den Manager kann das beispielsweise bedeuten, dass er zuverlässige Daten zur Vorbereitung eines Umweltschutzgesetzes bereitstellt und nicht verzerrte Daten, mit denen er die Öffentlichkeit täuschen will. Für den Politiker kann das bedeuten, dass er nicht die Erhaltung der eigenen Macht zum obersten Ziel erklärt, sondern die Schaffung von Bedingungen, die ein menschenwürdiges Leben erleichtern.

Dazu brauchen wir nicht ein völlig neues System in Wirtschaft und Politik, denn "Markt und Moral" stehen nicht in einem unversöhnlichen Widerspruch zueinander. Was wir brauchen, sind Menschen, die in Wirtschaft und Politik nach anderen Massstäben handeln als dem der Lebenserfüllung durch materiellen Erfolg.

Datum: 27.04.2002
Autor: Prof. Dr. Hermann Sautter
Quelle: Institut für Glaube und Wissenschaft

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