Trendwende im neoliberalen Denken?

Wertewandel ohne Schweben über den Wolken
Hans Ruh

Die Grundlagen einer "sozialen Marktwirtschaft" wurden weithin vergessen. In letzter Zeit hat aber Ernüchterung eingesetzt. Ethiker und Wirtschaftswissenschafter sprechen heute von einer Trendwende im neoliberalen Denken

Die Arbeitenden dürfen wieder hoffen. Die Zeiten, in denen die Propheten des absoluten freien Marktes ihre Thesen unwidersprochen darlegen konnten, scheinen vorbei zu sein. Diese Schlussfolgerung lassen die "Thesen und Zielsetzungen" des kürzlich gegründeten Vereins "Netzwerk für sozial verantwortliche Wirtschaft (NSW)" jedenfalls zu. Zum Netzwerk gehören Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Universität, unter ihnen zum Beispiel Mario von Cranach, langjähriger Lehrstuhlinhaber für Sozialpsychologie an der Universität Bern. Mitglieder sind weiter der freisinnige Nationalrat Peter Tschopp und der St. Galler Wirtschaftsethiker Peter Ulrich.

Reif für den Umbruch

Nach Peter Ulrich sei die Zeit reif für einen gesellschaftlichen Umbruch. Weder von Cranach noch er selber schweben bei diesem Gedanken über den Wolken. Sie haben die Lage in Gesprächen mit Schweizer Wirtschaftsführern und Politikern wie Ulrich Bremi, François Loeb und Lukas Mühlemann analysiert. Von Cranach sieht nach "zehn Jahren Blütezeit des Denkens gemäss dem Shareholder Value nun Zeichen, die auf einen erneuten Wertewandel hindeuten - "hin zu sozial verantwortlicheren Entscheidungsmodellen", wie er gegenüber der Weltwoche sagte. Beide halten den Zeitpunkt für die Lancierung ihres Anliegens für günstig: "Wir konnten in den letzten zehn Jahren miterleben, wie sich die anfänglich explizite Abwehrhaltung der Wirtschaft gegenüber ökologischen Forderungen zusehends aufweichte - heute ist Nachhaltigkeit bei Grossfirmen bereits ein Börsenthema", so Ulrich. Bei der Einführung von sozialen Standards stehe man am selben Punkt wie bei der Ökologiedebatte vor zehn Jahren.

Anstösse zum Handeln

Weil aber "gegen die ungeheure Verführungsmacht des Geldes" letztlich nur innovative Ideen helfen, sehen die Professoren und Politiker dennoch Handlungsbedarf und geben darum mit einem Thesenpapier einige Anstösse.

Mit den Thesen1 versucht das Netzwerk insbesondere die grossen Konzerne zu sozial verantwortlichem Handeln aufzufordern. Wörtlich: "Um die weitere gesellschaftliche Entwicklung in gute Bahnen zu lenken und Unheil abzuwenden, halten wir es für notwendig, dass die in der Wirtschaft verantwortlich Handelnden über den kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolg hinaus auch an die gesellschaftlichen Folgen ihrer Entscheidungen denken." Die Wirtschaftssysteme übten einen gewaltigen Einfluss auf die Struktur der ganzen Gesellschaft und auf das Leben der einzelnen aus. Die externe Kontrolle der einflussreichen Wirtschaftssysteme sei erheblich schwieriger geworden. Wichtige Exponenten des Systems handelten bisweilen sogar, als wären soziale Werte für sie weitgehend unverbindlich. Dies entspreche der publizierten Auffassung einflussreicher Wissenschaftler. Und das liege unter anderem daran, dass die Anonymität des Kapitalbesitzes von sozialer Kontrolle und von Gewissenskonflikten befreie. "Die grossen Unternehmen laufen damit Gefahr, zu parasitären Systemen zu werden, welche die Gesellschaft mehr gefährden als ihr dienen", heisst es wörtlich im Thesenpapier. Anders stehe es bei mittleren und kleinen Unternehmen. Diese unterstünden noch viel stärker der sozialen Kontrolle und könnten so viel weniger die Interessen der Arbeitnehmer in den Wind schlagen.

Die Wirtschaft brauche deshalb ein gewisses Mass an Ordnungspolitik, weil die Freiheit des Marktes durch wirtschaftsethische und politische Normen begrenzt werden müsse. Denn Markt und Wettbewerb seien Produkte des menschlichen Handelns im Rahmen der von Menschen geschaffenen Bedingungen. "Es ist die Entartung des Marktprinzips zur Ideologie, die wir bekämpfen", stellen die Autoren in seltener Schärfe fest. Auch heute noch hielten es namhafte Nationalökonomen für selbstverständlich, dass liberale Grundsätze nur im Rahmen gesellschaftsbezogener Wertvorstellungen positive Wirkungen entfalten könnten. Es gelte, dem radikalen Wirtschaftsliberalismus den ideologischen Boden zu entziehen.

Eine nachhaltige Wirtschaft

Der emeritierte Sozialethiker Professor Hans Ruh geht noch einen Schritt weiter und fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag. Er meint damit einen fiktiven Vertrag, der nach ethischen Perspektiven die Verteilungs-, Kooperations- und Ausgleichsfragen zwischen Menschengruppen in Wirtschaft und Gesellschaft lösen würde. Ruh schwebt weiter eine "nachhaltige Gesellschaft" vor, welche die Lebensgrundlagen schützt, die gerecht und solidarisch ist und zugleich eine effiziente Wirtschaft anstrebt. Ruh träumt von einer nachhaltigen Wirtschaft mit "geschlossenen Stoffkreisläufen und Ehrfurcht vor der Artenvielfalt". Konkret bringt es Ruh so auf den Punkt: "Eine nachhaltige Wirtschaft schafft Arbeit für alle, zielt auf ein gerechtes Steuersystem, arbeitet ökoeffizient und belohnt sozial erwünschte Leistungen." Ebenso bringt er die Idee eines Naturverfassungsgerichts und eines neuen Steuersystems ins Spiel: Es würde nach seiner Vorstellung nicht die Arbeit, sondern den Verbrauch der Ressourcen belasten.

Neue Zeitaufteilung

Ruhs Vorschläge ruhen auf drei Säulen. Er plädiert für einen "Grundlohn für alle" im Betrag von 1500 Franken pro Monat als Basis für das wirtschaftliche Überleben aller Menschen in diesem Land. Zur Finanzierung dieses Grundlohns und weiterer sozialer Massnahmen schlägt Ruh verschiedene Formen einer Ökosteuer vor, die nicht nur Mittel freisetzen, sondern auch der Zerstörung unseres Lebensraums entgegenwirken würden. Weiter denkt der Sozialethiker an einen für alle Schweizer Bürgerinnen und Bürger obligatorischen Sozialdienst und die Förderung der ehrenamtlichen Arbeit. Dies würde laut Ruh einerseits das soziale System, insbesondere den Pflegebereich, entlasten und gleichzeitig den betroffenen Menschen Erfahrungen vermitteln, die ihnen zu mehr Lebenssinn verhelfen. Ruhs Vorschläge (vgl. Kasten) sind nicht ganz neu, und die Politik versucht, erste zaghafte Schritte, zum Beispiel eine ökologische Steuer, umzusetzen. Der Gedanke einer nachhaltigen Wirtschaft wurde vom Industriellen Stephan Schmidheiny aufgenommen und ist seither in der Globalisierungsdebatte ein Thema.

Im 1995 erschienenen Buch "Arbeitszeit und Arbeitslosigkeit" plädiert Ruh ausserdem für eine "neue Aufteilung, Zielsetzung und Fokussierung der menschlichen Tätigkeitszeit". Der "Dualismus Freizeit - Arbeitszeit" müsse durch ein neues Modell ersetzt werden2. Es beinhaltet laut Ruh:
· Freizeit
· Monetarisierte Arbeit
· Eigenarbeit
· Obligatorische Sozialzeit
· Informelle Sozialzeit
· Ich-Zeit
· Reproduktionszeit

Ruh bringt dazu folgende Präzisierungen an:

Monetarisierte Arbeit
Ich sehe für die Zukunft die Halbtagsstelle als Norm für Mann und Frau. Allerdings soll jeder Mensch soviel arbeiten können, wie er will, sofern er die entsprechende Arbeit findet, diese ökologisch und sozial nicht schädlich ist und die Grundbedürfnisse anderer dadurch nicht eingeschränkt werden.

Eigenarbeit
Möglichst viele Tätigkeiten sollten wieder in Form von Eigenarbeit ausgeführt werden können. Dies senkt die gesamtgesellschaftlichen Fixkosten, ist ökologisch verträglich, schafft Sinn, bringt Unabhängigkeit. Ich denke an Tätigkeiten für die Gesundheit, für Nahrungsbeschaffung, Haushalt, Bildung, Kultur, Mobilität (zu Fuss oder mit dem Fahrrad), Reparatur, Wohnungsbau etc.

Informelle Sozialzeit
Es soll jeder Mensch die Kraft, Bereitschaft und Möglichkeit haben, freiwillig sozial und ökologisch sinnvolle Tätigkeiten auszuführen. Ich denke da an Nachbarschafts-hilfe, Privatstunden, Verwandtenbesuche.

Ich-Zeit
Jeder Mensch braucht Zeit für sich selbst, für seinen Körper, seine Seele und seinen Geist. Wendet er diese Zeit sinnvoll an, geschieht dies auch zum Nutzen der Gesellschaft. Bei der Ich-Zeit denke ich an die eigene Gesundheit, Sport, Kultur, Religion, ...

Reproduktionszeit
Darunter ist die Gesamtheit der Tätigkeiten zu verstehen, die Mann und Frau für die Entwicklung, Betreuung, Erziehung und Pflege der zukünftigen Generationen leisten.

Obligatorischer Sozialdienst
Für die Zukunft bedeutsam ist sicher Ruhs Vorschlag eines obligatorischen dreijährigen Sozialdienstes für alle Frauen und Männer. Ein Jahr davon wäre um das 20. Lebensjahr herum zu leisten. Ein zweites Jahr müsste in Wiederholungskursen von 14 Tagen jährlich absolviert werden. Das dritte Jahr könnte in Blöcken oder kurzen Einsätzen wenig vor oder nach der Pensionierung geleistet werden. Dies würde Arbeitenden einen flexibleren Übergang in die Pensionierung erlauben und gleichzeitig deren Lebenserfahrungen gesellschaftlich nutzbar machen.

Der Sozialdienst würde vor allem für ökologisch und sozial bedeutsame Dienstleistungen eingesetzt, die personalintensiv und teuer sind und daher im gegenwärtigen System nicht oder nur unzureichend erbracht werden können. Ruh denkt dabei besonders an die Betreuung älterer Menschen und von Kranken, bei denen die Betreuungsdefizite inzwischen immer deutlicher sichtbar werden. Zudem schlägt Ruh die Schaffung einer gewaltfreien, nationalen und internationalen Truppe zur Friedenssicherung vor sowie den Einsatz eines Sozialdienstes in Verkehrsmitteln und auf Plätzen, die von Gewalt bedroht sind, aber durch bestehende Sicherheitskräfte aus Personalmangel nicht genügend geschützt werden. Auch Kinderhüte- und Betreuungsdienste könnte sich Ruh vorstellen. Weiter könnte der Militärdienst könnte im Rahmen dieses Sozialdienstes absolviert werden.

Hans Ruh spürt mit seinen Vorschlägen den Puls der Zeit, und man darf gespannt sein, was davon in den nächsten Jahren umgesetzt werden kann.

Fritz Imhof, Bausteine


Fünf Thesen des Sozialethikers Hans Ruh

In prophetischer Weise hat der mittlerweile emeritierte Zürcher Sozialethiker Hans Ruh seine fundamentalen Änderungsvorschläge der modernen Arbeits-, Industrie- und Kapital-Gesellschaft formuliert.

1. Wir brauchen eine neue Aufteilung, Zielsetzung und Fokussierung der menschlichen Tätigkeitszeit, d.h. der Dualismus Freizeit/Arbeitszeit muss durch ein differenzierteres Modell ersetzt werden.

2. Wir brauchen eine teilweise Entkoppelung von Arbeit und Lohn. Wir brauchen eine Grundsicherung für alle, unabhängig von der Arbeit.

3. Wir brauchen neue Anreize oder vielmehr Motivationen für sozial und ökologisch bedeutsame Leistungen. Unter anderem lässt sich ein solches Ziel nur über einen umfangreichen obligatorischen Sozialdienst erreichen, der von allen geleistet wird.

4. Wir müssen uns immer mehr und konsequenter auf eine an der Nachhaltigkeit orientierte Lebens- und Produktionsweise ausrichten, die letztlich nur eine bionische Produktionsweise4 sein kann.

5. Wir müssen - vor allem zur Überwindung des Widerspruchs zwischen der Logik der Unternehmen und der Logik der Gesamtwirtschaft bzw. der Gesellschaft - neue Koalitionen in der Wirtschaft finden und uns in neuen Partnerschaften auf regionale Ziele ausrichten.

1 Die vollständigen Thesen des Netzwerks sind im Internet auf "www.bibelgruppen.ch" abrufbar.

2 Ruh, Schellenbaum, Würgler (Hrsg.). "Arbeitszeit und Arbeitslosigkeit." Zürich, 1995, S. 142f.

3 Beachten Sie dazu auch den Bericht "Unbezahlt - aber trotzdem Arbeit / Zeitaufwand für Haus- und Familienarbeit, Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Nachbarschaftshilfe". Bundesamt für Statistik, 1999.

4 Bionik: Wissenschaft, die elektronische Probleme nach dem Vorbild biologischer Funktionen zu lösen versucht.

Datum: 26.03.2002
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service