Vergebung ist einer der zentralen biblischen Begriffe.
Und wir nehmen sie in der Regel gern für uns in Anspruch. Ganz anders sieht es
aus, wenn wir anderen vergeben sollen – besonders «dem da». Dabei beruhen viele
Vorbehalte auf Missverständnissen.
Wer mit anderen Christen über den Segen des Vergebens
nachdenkt, der kann dabei interessante Gespräche führen. Wer dagegen fragt: «In Matthäus, Kapitel 6, Vers 12
steht: 'Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren
Schuldnern.' Wie setzt du diesen Anspruch von Jesus in deinem Leben um?», der
macht unter Umständen die Erfahrung, dass er gerade eine Bombe gezündet hat.
Der US-Pastor Scott Savage nennt zählt Mythen und Missverständnisse rund um die Vergebung auf – und behauptet,
dass sie mit dafür verantwortlich sind, dass viele Christen in Bitterkeit
leben.
Missverständnis: Vergebung betrifft die andere Person
Viele denken, wenn sie jemandem die Vergebung
verweigern, würde diese Person endlich verstehen, was sie Schlimmes angerichtet
hat. Doch ein bekanntes Bild bringt es auf den Punkt: «Jemandem nicht zu
vergeben, ist so, als würde man Rattengift trinken und erwarten, dass die Ratte
stirbt.» Es geht darum, dass die verletzte Person frei wird.
Missverständnis: Vergeben heisst Vergessen
Manchmal kann man erfahrenes Unrecht vergessen, doch
das ist keine Bedingung für Vergebung. Oft ist es nicht möglich – unser Herz
hat keine «Papierkorb»-Funktion wie ein Computer, um Informationen dauerhaft zu
löschen. Oft ist es gar nicht sinnvoll – gerade Fälle von Missbrauch oder
Betrug sollten im Bewusstsein bleiben, um Opfer schützen zu können.
Missverständnis: Man kann vergeben, ohne selbst
Vergebung zu erfahren
Missverständnis: Die biblischen Glaubenshelden
brauchten weniger Vergebung
Mose war ein Mörder, David auch. Der Apostel Paulus
war ein Verfolger und Massenmörder von Christen. Und diese Liste liesse sich
fast beliebig fortsetzen. Entscheidend war damals, dass diese Menschen Gott an
sich wirken liessen – und daran hat sich bis heute wenig geändert. Höchstens
die Frage, ob wir es zulassen würden, dass ein Mann mit einem Ruf wie Paulus in
unsere Gemeindeleitung kommt.
Missverständnis: Vergebung ist eine Entscheidung und
eine Frage des Wollens
Vergebung geschieht nicht automatisch. Dazu sind
Entscheidungen nötig. Und zwar immer wieder, denn Vergebung ist in erster Linie
ein Prozess. Man entscheidet sich nicht dafür zu vergeben – und dann ist das
Thema erledigt. Richard Rohr betonte: «Wir denken uns nicht in eine neue Art zu
leben hinein, sondern wir leben uns in eine neue Weise zu denken hinein.» Und
dann vergibt man, wieder und wieder und wieder …
Missverständnis: Man kann Vergebung verweigern, um
andere zur Verantwortung zu ziehen
Scott Savage
Tatsächlich ist es okay, Menschen zur Verantwortung zu
ziehen, die schuldig geworden sind. Doch das bedeutet nicht, ihnen nicht zu
vergeben. Scott Savage formulierte das an anderer Stelle so: «Vergebung
bedeutet, dass ich mein Recht auf Rache aufgebe und darauf vertraue, dass Gott
für Gerechtigkeit sorgt.» Er behauptet, dass in der Bibel keine einzige mental
gesunde Person beschrieben wird, die unversöhnlich lebt.
Missverständnis: Vergebung und Versöhnung sind
dasselbe
Nach dem Zuspruch von Vergebung herrscht häufig der Anspruch:
«Jetzt muss auch alles wieder gut sein. So wie früher.» Und man erwartet, dass
eben noch zerstrittene Menschen wieder ein gutes Miteinander pflegen. Dabei ist
es wichtig zu sehen: Anders als Vergebung ist Versöhnung ein Blick nach vorne
und stellt keinen alten Zustand wieder her. Tatsächlich kann Versöhnung eine
Folge von Vergebung sein, es ist aber möglich – und legitim! –, wenn das nicht
geschieht. So kann trotz Vergebung ein Abbruch der Beziehung der richtige Weg
sein, sei es, um eine Retraumatisierung
im Fall eines Missbrauchs zu vermeiden oder um eine toxische Beziehung
zu beenden.
Missverständnis: Vergebung muss der vergebenen Person
mitgeteilt werden
Warum erklärt man anderen: «Ich wollte nur, dass du
weisst, dass ich dir vergeben habe, was du mir angetan hast»? Soll das
Gegenüber doch noch einsehen, dass es einen Fehler gemacht hat? Und was
geschieht, wenn es das nicht tut? Man vergibt, um den eigenen Teil der
Verantwortung zu übernehmen, und um selbst frei zu werden. Beides stellt man
wieder infrage, wenn der «Täter» involviert werden muss.
Missverständnis: Vergebung muss man allein bewältigen
Tatsächlich sind Menschen auf Hilfe angewiesen, um mit
Schuld umzugehen und den damit verbundenen Schmerz zu bewältigen. Als Jesus
sein Bild vom Splitter und vom Balken im Auge malt (Matthäus, Kapitel 7, Verse
1-4), macht er klar,
dass man sich nicht auf Kosten anderer besser darstellen soll. Aber
gleichzeitig sind Menschen darauf angewiesen, dass man ihnen ihren blinden
Fleck zeigt und ihnen ganz praktisch dabei hilft, das zu tun, was sie tun
wollen, zum Beispiel vergeben.
Scott Savage schliesst seine Aufzählung mit dem
Appell: «Jeder von uns hat schon andere verwundet und ist selbst verletzt
worden. Wir alle haben Vergebung gebraucht und mussten anderen vergeben. Wenn
Sie feststellen, dass Sie jemandem zu vergeben haben, ist heute ein guter Tag,
um damit anzufangen.»