Wenn es ums Alleinsein geht, wird als Antwort
auf das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Intimität in der Regel an
Ehe und Familie gedacht.
Klar, dass man darum jene bedauert, die ohne Ehepartner und
Familie durchs Leben gehen. Einige irritierende Beobachtungen haben mich
jedoch ins Grübeln gebracht: Wie viele erleben in ihrer Ehe und Familie
eine schmerzliche Einsamkeit, die als doppelt belastend empfunden wird,
weil man doch solche Gefühle als Verheiratete nicht haben sollte und
kaum aussprechen darf. Andererseits begegne ich Menschen ohne Partner
und ohne eigene Familie, die erfüllt und emotional gesättigt ihr Leben
gestalten.
Damit ich nicht missverstanden werde: Natürlich gibt es auch
glückliche Ehen und Familien – und frustrierte Singles. Offensichtlich
entscheiden aber weder Zivilstand noch Sexualität über das persönliche
Lebensglück. Gleichzeitig hat mir ein Buch von Ed Shaw geholfen, Worte
für meine Empfindungen zu finden und die eigentliche Herausforderung zu
benennen: Die Gemeinde soll wieder ihre Bestimmung als Familie Gottes
leben.
Verhängnisvolle Reduktion
Meinrad Schicker
Dass viele dieses «Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!» mit
der Ehe und der Kernfamilie in Verbindung bringen, hat natürlich auch
mit dem biblischen Textzusammenhang zu tun. Nachdem Adam in Eva endlich
jene Ergänzung gefunden hatte, die sein Alleinsein beendete, heisst es:
«Deshalb verlässt ein Mann Vater und Mutter, um mit seiner Frau zu
leben. Die zwei sind dann eins, mit Leib und Seele» (1. Mose Kapitel 2, Vers 24). Die
Überzeugung, dass Ehe und Sexualität der einzige Weg seien, um dem
Alleinsein die Stirn zu bieten, hat im Verlauf der Zeit zu einem
verhängnisvollen Kurzschluss geführt: Intimität und Sexualität wurden
immer mehr zu austauschbaren Begriffen.
Intimität und Sexualität
Inzwischen bin ich überzeugt: Intimität ist auch ohne Sexualität
möglich, und Sexualität garantiert noch keine Intimität. Wir können zwar
ohne ausgelebte Sexualität erfüllt leben, aber ohne Intimität
verwahrlosen wir seelisch. Jesus war Single und konnte dennoch von einem
«überfliessenden Leben» sprechen. David erlebt die Freundschaft zu
Jonathan erfüllender als die Liebe zu Frauen, und Paulus ermutigt zu
einem zölibatären Lebensstil (vgl. 2. Samuel Kapitel 1, Vers 26; 1. Korinther Kapitel 7, Vers 8).
Nun stellt sich die entscheidende Frage: Wo und wie erleben wir
lebensspendende Nähe, Zugehörigkeit, Liebe, Vertrautheit – und damit
Intimität?
Eine neue Sicht auf die Gemeinde als Familie Gottes
Wenn es um die Prioritäten im eigenen Leben geht, höre ich immer
wieder, dass nach Gott die Familie das Wichtigste sei und irgendwann
komme dann die Gemeinde. Doch nach Jesus müssen Nachfolger von Jesus
Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja ihr eigenes
Leben «hassen» – so wenigstens im Grundtext (Lukas Kapitel 14, Vers 26). Und geradezu
brüskierend kann sein Hinweis – in der Gegenwart seiner Mutter und
seiner leiblichen Brüder – auf die ihn umgebenden Jüngerinnen und Jünger
verstanden werden: «Das hier sind meine Mutter und meine Brüder! Denn
wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter»
(Markus Kapitel 3, Vers 35).
Natürlich ist Jesus nicht gegen die Familie, und er ruft auch nicht
zu Hass auf (vgl. Markus Kapitel 7, Verse 9-13). Seine radikale Sprache macht aber auf
einen zentralen Anspruch aufmerksam: Das Reich Gottes, das sich in der
Kirche als familiäres Miteinander aller geistlichen Brüder und
Schwestern verkörpern will, ist der eigenen Ehe und Familie vorgeordnet.
Unsere Ehen und Familien sollen und dürfen in etwas Grösseres
eingebettet sein: in die Gemeinde als Familie Gottes. Diese Sichtweise
schwächt unsere Kernfamilien nicht, sondern entlastet sie letztlich.
Entlastung für Ehen und Familien
Wie oft überfordern wir unsere Ehen und Familien mit unseren
gegenseitigen Erwartungen und Ansprüchen nach Intimität und Glück. Ja,
als Ehepartner können wir einander viel geben, aber gleichzeitig leiden
wir auch an unserer begrenzten Liebesfähigkeit. Klar ist, dass die
Sexualität exklusiver Teil der Ehe bleiben soll. Da aber nie ein
einzelner Mensch alle unsere Bedürfnisse abdecken kann, brauchen wir ein
Netz von freundschaftlich-intimen Beziehungen, in denen alle Gebende
und Nehmende sind. Wie entlastend und unterstützend ist es für Mütter
und Väter, die öfters an ihre Grenzen stossen, wenn ihre Kinder von
Menschen aus der Gemeinde mütterlich-väterlich unterstützt werden! Lasst
uns «Familie» wieder grösser denken und leben! Gemeinde als Familie
Gottes birgt noch so viel zu entdeckendes Potenzial: Sie will neu als
Ort befreiender und heilsamer Intimität gewagt und erlebt werden.