Kindern etwas vorzulesen, ist ja völlig normal. Aber Erwachsenen? Oder gar Demenzkranken? Dies sollte mindestens ebenso normal sein, findet Seelsorger Uli Zeller. Weil es dem Gegenüber Wertschätzung zeigt.
Frühstücksrunde in der Tagespflege. Schwester
Martha hat gerade nochmal ein paar Brote für die Gäste geschmiert. Denn wenn
man in der Gruppe zusammen sitzt, schmeckt es meist noch besser.«Heute morgen
habe ich schon etwas Lustiges in der Zeitung gelesen», erklärt die Schwester. «Ein Einbrecher wurde gefangen, weil er in einen Hundehaufen getreten ist. Am
Profil seiner Schuhe konnte man ihn erkennen.» Und schon zieht sie die Zeitung
hervor, sucht den Artikel – und liest vor. Schmunzelnd hören die Gäste zu.
Uli Zeller bei der Arbeit im Altersheim
Wer vorliest, drückt damit eine ganze Menge
aus. Ohne es zu sagen, bringt er seinem Gegenüber zum Ausdruck: «Ich nehme mir
Zeit für Sie.» Oder: «Ich bin jetzt ausschliesslich für Sie da.» Oder auch: «Ich
finde es schön, wenn wir mal eine Weile zusammen auf die gleiche Sache
konzentriert sind.»
Beispiel aus der Geschichte: Kinderbücher
Vor einigen Jahrhunderten «gab» es noch gar
keine Kindheit. Kinder galten als unfertige Erwachsene. Sie waren in diesem
Sinn noch nicht ganz fertig. Noch nicht ganz Person. Man hat sie noch nicht so
ernst genommen wie heute. Weil man sie noch für nichts brauchen konnte, galten
sie eher als unwichtig. Erst vor etwa zweihundert Jahren hat man das Kind so
langsam entdeckt. Kinder waren es wert, dass man ihnen eine Geschichte schreibt
– Bücher für sie herausbringt. Ihnen gute Unterhaltung anbietet.
Bücher für Menschen mit Demenz
Seit einigen Jahren gibt es auch Vorlesebücher
für Menschen mit Demenz. Wer Menschen mit Demenz vorliest, kann damit ganz leicht
auf gleiche Augenhöhe kommen, gemeinsam in eine Geschichte eintauchen und dem
anderen damit zeigen: Ich nehme dich ernst. Mögen Vorlesegeschichten für
Menschen mit Demenz den Zuhörern vor allem zeigen, dass sie wertvolle Menschen
sind. Menschen, die man ernst nimmt. Trotz Demenz.
Zum Autor
Uli Zeller ist Seelsorger in einem
Altenheim in Singen und Autor. Jede Woche veröffentlicht er eine
Kolumne, in welcher er Tipps zum Umgang mit Menschen mit Demenz gibt oder
aus seinem Alltag erzählt. Alle Bücher von Uli Zeller
sind hier erhältlich.